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den lokalen Behörden fachlich und organisatorisch zur Seite stehen sollte, wurde Virchow beauftragt, »die Epidemie vorzugsweise im wissenschaftlichen Interesse einer näheren Untersuchung zu unterwerfen«.
     Am 10. März, gerade rechtzeitig vor den revolutionären Ereignissen in Berlin, kehrte Virchow zurück. Von April bis Mai 1848 verfaßte er eine umfängliche, weit über seinen Auftrag hinausgehende Abhandlung mit dem Titel »Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhusepidemie«.1) Diese wissenschaftliche Arbeit gilt als eine der ersten und grundlegenden Schriften der Sozialmedizin.
     Die Vorgänge in Oberschlesien und das Verhalten des preußischen Staates erklären auf medizinisch-sozialem Gebiet anschaulich bürokratisches und volksfremdes Denken der Beamtenschaft. Der entschiedene Demokrat und Republikaner Virchow: »Das Gesetz war da, die Beamten waren da, und das Volk – starb zu Tausenden Hungers und an Seuchen.« (S. 322) Wen verwundert es daher, daß das Volk »in der Aristokratie oft genug seine gebornen Gegner« (S. 322) erkannte. Die Bevölkerung von Oberschlesien erhob sich in den Märztagen nicht, aber ihre katastrophale Lebenssituation als Reflektion monarchistischer Herrschaft, als ein Mosaiksteinchen der allgemeinen Unzufriedenheit, steckte wohl schon im zornigen Aufbegehren der Berliner Barrikadenkämpfer. Bei Virchow verfestigten sich
Bernhard Meyer
Flecktyphus in Oberschlesien

Anfang 1848 dämmerte es den preußischen ministeriellen Behörden in Berlin, daß es in ihrem wie eine Kolonie gehaltenen Regierungsbezirk Oppeln eine Epidemie gab. Nicht mehr zu ignorierende Zeitungsberichte sprachen immer energischer von einer »verheerenden Krankheit«. In jenem Landstrich verbreiteten sich Ruhr, Wechselfieber und Typhus immer wieder, so daß die Berliner Behörden den auf dem Amtswege eingegangenen Meldungen über diese latente Seuchenlage routinemäßig keine besondere Bedeutung beimaßen. Der diesmalige Typhus aber herrschte nun schon seit Juli 1847 und kam nach sieben Monaten noch immer nicht zum Stillstand, »war eher im Zunehmen als im Abnehmen«. Und so entschloß sich endlich der seit 1840 im Amt befindliche Minister für geistige, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779–1856), eine Kommission zu entsenden. Am 20. Februar 1848 reisten der Geheime Ober-Medizinalrat Dr. Barez und der Prosektor der Charité, Rudolf Virchow (1821–1902), in die von der Epidemie am stärksten betroffenen Landkreise Rybnik und Pless. Während Barez

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durch die dreiwöchige Dienstreise an die Peripherie Preußens antifeudale und antimonarchistische, demokratische und republikanische Überzeugungen. »Ich selbst war mit meinen Consequenzen fertig«, schrieb er, »als ich von Oberschlesien nach Hause zurückeilte, um Angesichts der neuen französischen Republik bei dem Sturz unseres alten Staatsgebäudes zu helfen«. (S. 321) In der Tat, Virchow gehörte einem »Bürger-Comité« an, nahm an der legendären Dozentenversammlung der Friedrich-Wilhelms-Universität teil, verteidigte die Barrikade Taubenstraße/Friedrichstraße mit und hielt »aufrührerische Reden« von der Kanzel der Charité-Kirche. Das alles mit dem Ergebnis, daß er am 31. März 1849 von ebendiesem Ministerium als Prosektor von der Charité relegiert wurde.
     Virchows Mitteilungen gehören zum geistigen Potential des Vormärz. Wer in seiner Schrift vornehmlich eine akademisch-fach-

wissenschaftliche Abhandlung über den Typhus und seine Erscheinungsweise in Oberschlesien erwartet, sieht sich angenehm enttäuscht. Er beschreibt zunächst ausführlich Topographie und Geographie des Landstrichs sowie die historischen Aspekte der Besiedlung. Die Bewohner, fast ausschließlich Polen, waren einer preußischen Beamtenschaft und deutschen Eigentümern an Grund und Boden ausgesetzt. Die Kultur, die Sprache, die Tradition – alles polnisch. Die Einwohner wurden dann auch wie Fremdlinge gehalten, wozu Virchow bezüglich der Bildung meinte: »Kaum ein Buch, außer dem Gebetbuch, war dem Volk zugänglich.« (S. 221) Schließlich überzog die katholische Hierarchie das Volk: »Nirgends ... hat der katholische Clerus eine absolutere Knechtung des Volkes zu Stande gebracht, als hier: der Geistliche ist der uneingeschränkte Herr dieses Volkes, das ihm wie


Rudolf Virchow
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eine Schar Leibeigener zu Gebote steht.« (S. 221) Ausführlich betrachtete Virchow die unzureichenden Behausungen, die neben manchem baulichen und hygienischen Mangel ständig überbelegt waren. »Ungeziefer aller Art, insbesondere Läuse« (S. 220), waren ständig vorhanden und fanden durch ungenügende körperliche Hygiene ausreichende Existenzmöglichkeiten und verbreiteten so die Infektion. »Seit Menschengedenken« bestand die Nahrung fast ausschließlich und damit einseitig nur aus Kartoffeln, Molke und Sauerkraut. Resümierend urteilt Virchow über das Volk, daß es »auch das Schrecklichste ertragen« gelernt habe. (S. 223)

Vier Stadien
des Krankheitsverlaufs

Die medizinischen Aspekte der Epidemie nahmen natürlich hauptsächlich Virchows Aufmerksamkeit in Anspruch. Typhus als Epidemie war nichts Alltägliches und forderte genaue Untersuchungen heraus, zumal es verschiedene Ansichten über die Ursachen und den Verlauf gab: »Was ist Typhus? und wie entsteht und verbreitet sich Typhus? Das sind Fragen, welche noch Niemand ausreichend beantwortet hat.« (S. 274) In Europa war er selten geworden, und so bot sich die Gelegenheit, das Wissen um diese gefährliche Infektionskrankheit auf den aktuellsten Stand zu bringen und die

Ärzteschaft zu informieren. Virchow machte vier Stadien des Krankheitsverlaufs aus, wobei der Tod am häufigsten auf dem Höhepunkt der Erkrankung zwischen dem 9. und 14. Tag eintrat. Er tendierte beim oberschlesischen Typhus zum einfachen Typhus (im Unterschied zum abdominalen Typhus), der »um so häufiger ist, je armseliger und einseitiger die Nahrungsmittel und je schlechter die Wohnungen sind«. (S. 285) Hungersnot allein, so wußte man, bewirkt keinen Typhus. Erst die Kopplung mit engen, überbelegten Wohnungen und daraus resultierender belasteter Luft bieten die Voraussetzungen für eine Typhusepidemie.
     Aufgrund der damals noch völlig unzureichend geführten Medizinalstatistik liegen nur wenige und dazu noch lückenhafte Zahlen über die Verbreitung der Epidemie vor. Bei einer Bevölkerungszahl von 303 500 für den Kreis Rybnik traten ca. 8 800 Erkrankungen auf, die zu 1 760 Todesfällen führten. Damit betrug die Mortalität (Verhältnis der Gestorbenen zur Zahl der Erkrankten) ca.
     20 Prozent. Anders ausgedrückt belegen die Zahlen, daß 2,9 Prozent der Bevölkerung starben. In den anderen Kreisen lag die Mortalität mit ca. 11 Prozent wesentlich niedriger. Etwa 3 000 Kinder wurden in beiden Kreisen durch die Epidemie zu Waisen. Einem Drittel der Bevölkerung etwa mußten die zum Überleben notwendigen Nahrungsmittel sechs Monate lang durch
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die lokalen Behörden unentgeltlich zugeteilt werden. Es fehlte an der nötigen Anzahl von Ärzten, denn es gab »noch viele Dörfer, wohin kein Arzt gekommen ist«.2) In Ausübung ihrer Berufspflicht infizierten sich 33 Ärzte, von denen ebenfalls einige verstarben.

Die Behörden ignorierten
den Ausbruch der Epidemie

Das nun wurde durch die ministerielle Kommission aus Berlin festgestellt und allein durch Rudolf Virchow an die Öffentlichkeit gebracht. Bemerkenswert, mit welcher Akribie und Detailtreue er das Geschehen wiedergab. Diese Eigenschaft der äußersten Genauigkeit läßt sich durch sein ferneres wissenschaftliches und politisches Leben stets bei allen behandelten Themen feststellen. Ganz im Gegensatz dazu ignorierten die übergeordneten Behörden sowohl die Hungersnot nach drei Mißernten als auch die ausgebrochene Epidemie. Materielle Hilfe, »die den Staatsbehörden zu thun angestanden hätte«, (S. 315) leistete zuerst und umfassend ein im Sinne der Wohltätigkeit gegründetes Breslauer Comité.
     Das Geld dafür mußte durch einen »Nothruf an die Mildtätigkeit und Barmherzigkeit des Publikums« gesammelt werden.
     Das wiederum rief bei einigen Spendern Befürchtungen hervor: »Als man denen, die gar nichts, absolut nichts zu essen hatten, 1 Pfd. Mehl für den Tag bewilligte, fürchtete

man, sie würden sich verwöhnen! Kann man sich Schrecklicheres denken, als dass sich jemand an Mehl, an blossem reinem Mehl verwöhnen wird und dass dies jemand befürchten kann?« (S. 223)
     Derlei Auslassungen schrieb seinerzeit niemand in wissenschaftlich abgefaßte medizinische Mitteilungen über eine Krankheit für ein Fachblatt. Und man kann sicher sein, daß Virchow auch entsprechende Informationen an das Ministerium übermittelt hat wie: »Eine verheerende Epidemie und eine furchtbare Hungersnoth wütheten gleichzeitig unter einer armen, unwissenden und stumpfsinnigen Bevölkerung ...
     Dieses Volk ahnte nicht, dass die geistige und materielle Verarmung, in welche man sie hatte versinken lassen, zum grossen Theil die Ursachen des Hungers und der Krankheit waren ...« (S. 321 und S. 324)

Die Medizin und die
großen Fragen unserer Zeit

Und er verdeutlichte allen seinen Lesern den engen Zusammenhang von naturwissenschaftlicher Medizin und gesellschaftlichen Bedingungen, denn »die Medicin hat uns unmerklich in das sociale Gebiet geführt und uns in die Lage gebracht, jetzt selbst an die grossen Fragen unserer Zeit zu stossen« (S. 325). Preußen lebte seit 33 Jahren in Frieden und hatte seither Ähnliches nicht erlebt, ja »niemand hätte der-

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   72   Geschichte und Geschichten Flecktyphus in Oberschlesien  Vorige SeiteNächste Seite
gleichen in einem Staate, der so grosses Gewicht auf die Vortrefflichkeit seiner Einrichtungen legte, für möglich gehalten«
(S. 321). Es bedurfte eines sozialkritischen, das gesellschaftliche Ganze sehenden Arztes vom Format und der Persönlichkeit Virchows, um diese Situation angemessen zu beschreiben und der Öffentlichkeit vorzuführen. Kaum nach Berlin zurückgekehrt, sprach er am 15. März vor der Gesellschaft für wissenschaftliche Medizin über diese skandalösen Zustände.
     Der Medizinier und Politiker Virchow formulierte für die künftige Verhinderung oberschlesischer Verhältnisse »radicale Mittel«, die sich aus seinem republikanisch-demokratischen Gedankengut der 48er Revolution ergaben. Soziale Gerechtigkeit knüpfte er an die unerläßliche Voraussetzung »freie und unumschränkte Demokratie« (S. 330), wobei das »Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsgemäße Existenz« in der Staatsverfassung festgeschrieben sein müsse.
     An vorderster Stelle hielt er in Anlehnung an den in Baden agierenden kleinbürgerlichen Revolutionär Gustav von Struve (1805–1870) »Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand« (S. 325) für erforderlich, wobei er weitblickend anfügte: »Freiheit ohne Bildung bringt Anarchie, Bildung ohne Freiheit Revolution.« (S. 328) Speziell auf Oberschlesien bezogen hielt er die »nationale Reorganisation« Polens
(S. 326) für zwingend. Es folgten Vorschläge für die Gestaltung des Ackerbaus und der Viehzucht, die Industrialisierung und den Straßenbau, die Besteuerung und die Trennung von Schule und Kirche.
     Einen Bericht mit dieser kritischen Diktion und derart weitreichenden Vorschlägen hätte wohl niemand im Ministerium für möglich gehalten. Zwar hatte Preußen 1835 in einem »Sanitätsregular« die Meldepflicht für Cholera, Typhus, Ruhr und Pocken eingeführt, allein die diesbezüglichen Berichte aus Oppeln erfuhren in Berlin amtlicherseits eine andere, eben abmildernde Deutung. Vergessen war jedoch keineswegs der Hungeraufstand der schlesischen Weber vom Juni 1844 in Peterswaldau und Langenbielau. Auf den 26jährigen Virchow stieß die Staatsbehörde, weil er trotz aufbegehrender Ansichten als angehende Koryphäe im medizinischen Berlin in aller Munde war und als frischgebackener Prosektor der Charité aus pathologischer Sicht alle Voraussetzungen für eine solide wissenschaftliche Untersuchung vor Ort mitbrachte.

Für Virchow ein
höchst ehrenvoller Auftrag

Außerdem war Virchow als Absolvent der militärmedizinischen Pépinière noch Militärarzt (die Entpflichtung erfolgte auf sein Bestreben hin erst im Frühjahr 1848) und als solcher vertrauenswürdig für eine

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möglicherweise doch delikate Angelegenheit, wie die Presse behauptete. Seinem Vater schrieb er am Tag der Abreise aus Berlin, daß er »die Epidemie in Oberschlesien sehen möchte«. Nach einem Gespräch mit dem Minister am 18. Februar betrachtete Virchow seine Nominierung als einen »höchst ehrenvollen Auftrag«. Während der Inspektionsreise erfuhr Virchow von der Februarrevolution in Paris am 22. Februar und vom Beginn der deutschen Revolution am 27. Februar. Obwohl er gern noch länger geblieben wäre, hielten ihn »die politischen Ereignisse in einer zu großen Unruhe«. Es zog ihn nach Berlin. 30 Jahre später (1879) vermerkte er, daß die Mitteilungen einer Zeit angehören, »wo ich selbst jung und wo zugleich die Bewegung der Geister eine erregte war«. (S. V) Obwohl sich Oberschlesien in »manchen Stücken sehr verändert« habe, sind die Zustände »noch heute, wie sie immer waren, und die Mahnungen, welche ich 1848 ausgesprochen habe, besitzen noch heutigen Tages zu einem grossen Theile ihren Wert«. (S. 523) Die Niederschrift der »Mittheilungen« ab April 1848 fiel in die bewegte Zeit der nachmärzlichen Geschehnisse in Berlin und verband sich für ihn mit den letzten Handgriffen an seinem Publiktionsprojekt »Die Medicinische Reform«, die er zusammen mit Rudolf Leubuscher (1821–1864) vorbereitete und deren erste Ausgabe am 10. Juli 1848 erfolgte. Quellen:
1      Virchow publizierte seine Schrift unter dem genannten Titel erstmalig in dem von ihm herausgegebenen »Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin«, Jahrgang 1848, Band II, Heft 1 und 2. Alle hier verwendten Zitate stammen aus: R. Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus den Gebieten der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Berlin 1879
2      Alle Zitate ohne Seitenangabe stammen aus Briefen Virchows an seinen Vater vom 20. Februar, 29. Februar und 1. März 1848. In: R. Virchow: Briefe an seine Eltern 1839–1864. Leipzig 1907. S. 123ff.

Bildquelle:
Max Ring, die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung, Leipzig 1883

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