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ten, der leistungsfähigsten
Landwirtschaft« und Deutschland verfüge »über
Nahrungsmittel genug, um jede Kriegsdauer zu
überstehen«,1) veröffentlicht zu einer Zeit,
da Hunger bereits Einkehr in weite Bevölkerungskreise gefunden hatte.
Die Regierung hatte zwar bei Ausbruch des Krieges einige Regulierungsmaßnahmen zur Lebensmittelversorgung ergriffen, Höchstpreise erlassen, um Preistreibereien zu verhindern, aber alle Maßnahmen erwiesen sich letzten Endes als wirkungslos und riefen zumeist das Gegenteil hervor. Höchstpreise führten dazu, daß Lebensmittel vom öffentlichen Markt verschwanden, dagegen Schwarzhandel und Spekulantentum aufblühten. Und die Großgrundbesitzer, insbesondere die ostelbischen Junker, wehrten sich gegen jegliche Regulierung der Landwirtschaft und Verordnungen zur Nahrungsmittelverteilung. Nicht selten betrieben sie Sabotage. Die Ernährungssituation verschlechterte sich von Tag zu Tag. Ausbleibende Lebensmitteleinfuhren rissen Löcher in die Versorgung. Schon 1915 wurde mit der Rationierung von Mehl begonnen. Am 22. Februar 1915 führte Berlin als erste deutsche Stadt die Brotkarte ein (zusammen mit den Nachbarstädten). Der Tagessatz betrug für den Verbraucher 225 Gramm Mehl, die einer wöchentlichen Ration von 2 000 Gramm Brot entsprachen. Als im Frühjahr 1916 eine schwere Ernährungskrise ausbrach, ging | ||||||
Hans-Heinrich Müller
Kohlrüben und Kälberzähne Der Hungerwinter 1916/17 in Berlin Deutschland trat bereits in das dritte Jahr eines Krieges ein, der Europa und die
Welt in eine tiefe historische Krise stürzte.
Der Erste Weltkrieg war auch für die Berliner Bevölkerung von einschneidender, ja
grausamer Wirkung. Hatte man in den Augusttagen 1914 den Krieg noch begeistert
begrüßt, die »Feldgrauen«, auf die Schlachtfelder
ziehenden Soldaten mit Blumen
überschüttet, Hurra-Patriotismus demonstriert,
chauvinistische Losungen geschrieen oder an die Eisenbahnwaggons geschrieben, wie »Jeder Schuss ein Russ!« »Jeder Stoß ein
Franzos!« oder »Jeder Tritt ein Brit!«, so zog bei
den Daheimgebliebenen, bei den Frauen und Kindern, bei den Alten und
»Unabkömmlichen« bald grauer und trüber Alltag ein.
Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Anzeichen einer
Verschlechterung der Ernährungslage bemerkbar
machten. Längst war die Illusion verflogen, daß
der Krieg nur von kurzer Dauer sein werde.
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man zur allgemeinen Rationierung
über. Wie rapide sich die Ernährungslage
verschlechterte, zeigen einige Zahlen: So betrugen um die Mitte des Jahres 1916 die
Lebensmittelrationen gegenüber dem Friedensverbrauch bei Fleisch nur noch 30, Fisch 50, Eier 20, Schmalz 15, Butter 20, Käse 3, Reis
4, Hülsenfrüchte 15, Zucker 50, Kartoffeln
70, Pflanzenfette 40 und Mühlenprodukte 50 Prozent, wobei die Rationen in Berlin
wohl eher noch niedriger lagen.2)
Der Berliner Arzt und Sozialhygieniker Al- | fred Grotjahn notierte am 20. Februar in sein Tagebuch: »Langsam aber sicher gleiten wir in eine zur Zeit noch wohlorganisierte Hungersnot hinein«, doch schon am 5. Juli stellte er fest: »Jetzt beginnt so allmählich das eigentliche Hungern. Heute besuchte mich ein früherer Patient, der 66 Pfund verloren hat. Im Amt machen wir jetzt Versuche mit Kohlrübenbrot.«3) Es begann die Zeit der »Polonaisen«, wie die Berliner spöttisch oder sarkastisch die immer länger werdenden Schlangen vor den Läden und Markthallen nannten. Schon in der Nacht stellten sich die Frauen an und wurden im Morgengrauen, wenn sie zur Arbeit mußten, von den Kindern abgelöst, um bei Ladenöffnung das eine wöchentliche Ei, vielleicht einen halben Hering und vielleicht ein paar Gramm Butter zu ergattern. Die geplagten, erschöpften Frauen wurden immer verbitterter und die Qualität der Lebensmittel immer erbärmlicher. Der Berliner Stadtverordnete Wurm kritisierte auf einer Magistratssitzung die Verschlechterung der Qualität des Brotes, das man sich manchmal »hinunterekeln« müsse. Als er gar konstatierte: »Wagenschmiere ist mitunter eine herrliche Sache gegenüber dem, was man uns als Margarine anbietet«, erhob sich kein Widerspruch aus dem Auditorium.4) Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn machte sich Mißstimmung breit. Als am 16. Februar 1915, nach- | ||||||
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Berlin führte als erste Stadt die Brotkarte ein | |||||||
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mittags 5 Uhr, in der Markthalle der
Berliner Andreasstraße ein Kartoffelverkauf
eröffnet wurde und sich »Tausende von Frauen
und Kindern vorher angesammelt hatten ..., stürmte alles mit Gewalt auf die
Verkaufsstände los. An den Verkaufsstellen
entstand infolgedessen ein lebensgefährliches
Gedränge; jeder versuchte zuerst nach vorn zu kommen, wobei sich die Frauen das Zeug vom Leibe rissen ... Die Verkäufer
mußten indessen die Kinder aus dem Gedränge
herausziehen ...; auch viele Frauen kletterten in ihrer Angst über das Geländer
hinweg.« 24 Stunden vorher war der Kartoffelpreis
je Zentner um 1,75 Mark erhöht worden; seit dieser Bekanntgabe sei deutlich in der
Bevölkerung zu merken, »wie das
Vertrauen zur Regierung betreffs Ergreifen von
Gegenmaßregeln ... geschwunden ist und in
Enttäuschung und Mißstimmung
umgeschlagen ist«.5) Es häuften sich Proteste gegen
Lebensmittelknappheit und gegen den Krieg. Am 18. März 1915 fand eine der ersten Kundgebungen vor dem Reichstag statt.
Zehntausend Berliner Frauen und Männer demonstrierten am 30. November 1915 unter
den Losungen »Brot und Frieden«, »Nieder
mit dem Krieg«, »Wir wollen Frieden«, »Wir haben Hunger«. In den nächsten
Monaten und Jahren verschärfte sich die
Antikriegshaltung der Bevölkerung.
Brachte der Winter 1915/16 weitgehende Rationierung und Verknappung und Verteuerung aller Lebensmittel, so sollte es im | Winter 1916/17 noch viel schlimmer kommen. Es stellte sich nun Mangel an Kartoffeln ein, in einem Lande, das vor dem Krieg ein Drittel der Weltkartoffelproduktion lieferte. Die Hackfruchternte des Jahres 1916 war katastrophal ausgefallen. Gegenüber 54 Millionen Tonnen im Vorjahr konnten nur 25 Millionen Tonnen, d. h. weniger als die Hälfte, eingefahren werden. Wie ernst der Kartoffelmangel empfunden wurde, geht aus den Worten des Präsidenten des 1916 gebildeten Kriegsernährungsamtes, des ostpreußischen Oberpräsidenten Adolf von Batocki, des »Ernährungsdiktators«, wie er bald hieß, hervor, für den die Kartoffel geradezu ein Seismograph der Volksstimmung war: »Wochenlang kein Fett, absolute Fleischlosigkeit, auch Mangel an Brot mit Streckungsmittel habe die Bevölkerung geduldig ertragen. Aber sobald die Kartoffelversorgung stockte, sei die Stimmung völlig umgeschlagen.«6) Zu dem Kartoffelmangel gesellten sich eine schwerwiegende Transportkrise sowie ein strenger Winter. Noch im Monat März lagen in Berlin die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Für die Berliner Arbeiter und die ärmere Bevölkerung brachen die schwersten Monate des Krieges an, lernten »auch die Daheimgebliebenen die Schrecken des Krieges kennen und fürchten«.7) Statt der Kartoffel wurde nun die Kohlrübe zum Hauptnahrungsmittel. Der Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth berichtete darüber: »Weit mehr als sich im Herbst ahnen ließ, mußte | |||||
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die dicke wässrige Frucht dem Berliner
aufgenötigt werden, bis sie ihm und noch mehr der Stadtverwaltung zu Haß und
Abscheu wurde ... Monatelang, vom Februar 1917 bis in den April hinein, suchte ich jeden
Morgen vergeblich einen Eisenbahnwagen Kartoffeln auf meiner
Liste.«8) Die Wochenration von Fünf Pfund Kartoffeln konnte nicht
mehr ausgehändigt werden. Auch die Milchproduktion brach völlig zusammen. Die
Zahl der Lebensmittelkarten in der Handtasche schwoll an, aber die Zuteilungen waren
derart gering, daß sich das oftmalige
Anstehen kaum lohnte. Berlin lebte mehr denn je
von der Kohlrübe, und günstigstenfalls von
»Kälberzähnen« (grobe Graupen). Brot,
Marmelade, Kaffee bestanden aus Kohlrüben,
die Morgen-, Mittags- und Abendsuppe aus Wasser und Kohlrüben ohne Mehl und Fett.
Es gab kaum etwas, was sich nicht aus Kohlrüben zusammenmixen ließ, selbst Bier
und Pudding wurden auf Kohlrübenbasis fabriziert.
Während Arbeiter, Frauen, Kinder und die Alten hungerten und froren, weil auch eine Brennstoff- und Energiekrise hereingebrochen war, erlebten die Schleichhändler, Schieber und Spekulanten eine Hochkonjunktur, heimsten sie riesige Gewinne ein, war für sie das Elend der Bevölkerung eine Quelle ihres Reichtums. Sie waren erfinderisch im Angebot von Ersatz-Lebensmitteln, boten »Marmelade« aus Gelatine, Wasser und Essenzen an, Puddingpulver aus Leimsorten und Pfeffer aus Asche und schlugen | es gewinnträchtig los. Aber auch
Textilien gingen zur Neige. »Ersatz-Stoffe« aus
Papier sogen die Nässe auf, Ledersohlen waren
unerschwinglich.9) Und alle diese
Ersatz-Lebensmittel und -Stoffe wurden ebenfalls auf diversen Karten zugeteilt, wofür Dutzende von Ämtern zuständig waren und im
großen Durcheinander den Hunger
organisierten. »Noch nie hatte sich so offen wie in
diesem Kohlrübenwinter und danach gezeigt,
wie gänzlich unfähig und morsch bis in die
Knochen das preußische, auf Ressort- und Kastengeist gezüchtete bürokratische System
... in Wirklichkeit war.«10) Wer Geld hatte,
entfloh in Gegenden, wo die Kartoffel nicht ängstlich zugezählt wurde und wo
noch Milch und »richtige« Lebensmittel zu
haben waren. Noch nie war die Reiselust im
Bürgertum so heftig. Noch nie waren die
Hotels und Ferienorte so überfüllt wie in
den Kriegssommern 1916 und 1917.
Der Kohlrübenwinter, wie überhaupt der Krieg, hinterließ in Berlin seine Spuren. Nicht nur, daß sich im Berliner Straßenbild Verwahrlosungen zeigten, Hausputz bröckelte, die Straßenreinigung nicht mehr funktionierte, Handwerker nur noch selten Reparaturen an Fenstern, Türen, Klingeln und Außenanlagen ausführten, auch Rasenflächen und Parkanlagen veränderten ihr Gesicht, wurden nun mit Kartoffeln und Kohl bepflanzt. Auf Balkons wuchsen statt Blumen Tomaten, die man in Berlin jetzt schätzen lernte, Bohnen und Erbsen. Kanin- | |||||
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chen und Hühner wurden auf Balkons
oder in Höfen gehalten; zusammengezimmerte Ställe waren kostbare Errungenschaften. Und in manchem Keller wurde
»schwarz« ein Schwein gehalten, sonst wurde
die Fleischkarte um die Hälfte gekürzt.
Unterernährung war nun an der Tagesordnung, die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten nahm zu, die Zahl der Totgeburten auf Grund der Schwäche der Frauen schnellte in die Höhe, zahlreiche Menschen starben an Tuberkulose. Oberbürgermeister Wermuth schilderte diese Verhältnisse im Sommer 1917 mit den Worten: Es »setzte eine Sterblichkeit ein, welche die Wochenstatistiken bis auf das Eineinhalbfache und höher unaufhaltsam anschwellte, bis mit der neuen Ernte die Kartoffelzufuhr sich dauernd verbesserte. Der Tod hielt Ernte in den städtischen Krankenhäusern, ließ nicht ab, ehe alles Brüchige dahingesunken war; in den Irrenanstalten sank die Belegschaft bis auf die Hälfte.«11) Etwa 763 000 Menschen waren in Deutschland während des Ersten Weltkrieges an Hunger zu Grunde gegangen, wovon ein gehöriger Anteil auf Berlin entfiel. Die Hungertoten waren neben den Folgen der alliierten Seeblockade direkte Opfer kaiserlicher Agrar- und Ernährungspolitik. »Niemand, der Mangel und schließlich Hungersnot ab 1916/17 nicht selbst erlebt habe, könne sich davon annähernd ein Bild machen so äußern sich noch heute Betrof- | fene von damals, denen sich der Hunger dieser Jahre z. T. weit stärker eingeprägt hat als jener zum Ende des Zweiten
Weltkrieges.«12)
Anmerkungen: 1 Ernährung und Teuerung. Ausgabe der »Ernährung im Kriege« für Frühjahr 1916, hrsg. vom Ministerium des Innern, Berlin 1916), S. 2 ff. 2 W. Zimmermann: Die Veränderungen der Einkommens- und Lebensverhältnisse der deutschen Arbeiter durch den Krieg, Stuttgart-Berlin 1932, S. 451, vgl. auch R. Berthold, Zur Entwicklung der deutschen Agrarproduktion und der Ernährungswirtschaft zwischen 1907 und 1925, In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 4, S. 83 ff. 3 D. u. R. Glatzer: Berliner Leben 19141918. Eine historische Reportage aus Erinnerungen und Berichten, Berlin 1983, S. 335 f. 4 D. Baudis, Vom »Schweinemord« zum »Kohlrübenwinter«, In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1986, S. 146 5 S. u. W. Jacobeit: Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschland 19001945, Münster 1995, S. 244 6 D. Baudis, a. a. O., S. 147 7 A. Skalweit: Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin 1927, S. 3 8 A. Wermuth: Ein Beamtenleben, Berlin 1922, S. 377 9 Vgl. J. Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 4: 18711918, Berlin 1982, S. 452 10 A. Lange: Das Wilhelminische Berlin, Berlin 1984, S. 669 11 A. Wermuth, a. a. O., S. 377 12 S. u. W. Jacobeit, a. a. O. S. 242 | |||||
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© Edition Luisenstadt, 1998
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