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Theodor Brugsch (18781963) einige
wissenschaftliche Beiträge.
Wechsel von Zürich nach Straßburg Auch eine Generation nach den ersten Ärztinnen in Deutschland bestand noch die gleiche Diskriminierung der Frauen in Bildung und Beruf. Die am 15. September 1870 in Frankfurt am Main geborene
Rahel Hirsch strebte vehement nach höherer
Bildung. Ihr Vater, Dr. Mendel Hirsch, als Direktor der Realschule der Israelischen
Religionsgemeinschaft und einer der führenden Köpfe der strenggläubigen Juden in
der namhaften Frankfurter Gemeinde, schuf dafür die erforderliche geistige
Atmosphäre. Es blieb der aufstrebenden Rahel
aufgrund frauenfeindlicher Gesetze lediglich das Lehrerinnenseminar mit Examen in Wiesbaden, das sie 1889 erfolgreich
absolvierte. Aber sie wollte Ärztin werden. So ging
sie 1899 nach ihrer Reifeprüfung notgedrungen den Weg ins Ausland, den schon
Franziska Tiburtius (18431927) und Emilie Lehmus (18411932) über beide BM 9/95
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Bernhard Meyer
Erst nach 50 Jahren sprach man vom »Hirsch-Effekt« Forschungen der ersten medizinischen Professorin Preußens wurden ignoriert Im Leben der Rahel Hirsch kam manches zu spät: die Zulassung von Frauen für
das Medizinstudium, das Habilitationsrecht.
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sätzlich den Zugang zu den Universitäten gestattete. (In Preußen zögerte sich
allerdings die Zulassung noch bis 1908 hin.) Rahel wechselte und bezog die Universitäten in Straßburg und später in Leipzig.
Das Studium schloß sie dann 1903 in
Straßburg mit dem Staatsexamen und der
Promotion ab, worauf sie sofort die deutsche
Approbation erhielt.
Die Welt des Heilens stand ihr nun offen und sie entschied sich für eine ärztliche Volontärzeit an der Charité. Das erscheint einigermaßen überraschend, da sie bisher mit Berlin keine Berührungspunkte hatte und sich ihrer exklusiven Sonderstellung als Frau an der von Männern in Zivil und Uniform beherrschten Charité bewußt sein mußte. Anzunehmen ist wohl, daß sie der wissenschaftliche Ruf der Charité und Koryphäen wie der Chirurg Ernst von Bergmann (18361907), der Internist Ernst von Leyden (18321910), der Anatom Wilhelm von Waldeyer-Hartz (18361921) und der Pädiater Otto Heubner (18431926) anlockten. Sie erhielt eine Zusage für die II. Medizinische Klinik, an der gerade der aus Wien berufene Friedrich Kraus (18581936) das Ordinariat übernommen hatte. Nach Helenefriederike Stelzner (18611937), die ebenfalls 1903 an der Charité eine Volontärzeit in der Psychiatrie begann, war sie die zweite Ärztin in der fast 200jährigen Geschichte der Charité. | Erkennen und Bekennen
Die Herren der Gesellschaft der
Charité-Ärzte werden an jenem 7. November 1907,
ihrem turnusmäßigen wissenschaftlichen
Abend, sehr überrascht gewesen sein, als zum Tagesordnungspunkt 6 »Frl. Hirsch zum Thema >Ueber das Uebergehen
corpusculärer Elemente in den Harn<« aufgerufen wurde. Ein Fräulein mit Vortrag dergleichen hatten sie noch nicht erlebt. Und
dann noch das schier Unmögliche: Da
behauptete das Fräulein doch allen Ernstes, daß kleine Elementarteilchen (Korpuskulär) von einem Durchmesser bis zu 0,1 mm ohne
Schädigung der Gefäß- und Nervenbündel die Nierenrinde durchdringen und so in den Harn von Hunden oder Menschen
gelangen können. Man ging in der Sitzung über
den Forschungsbericht der Rahel Hirsch ebenso stillschweigend hinweg, wie ihre bereits im Frühjahr 1906 in einer angesehenen medizinischen Zeitschrift1) veröffentlichte Mitteilung darüber ignoriert wurde. Es
blieb für die medizinischen Denker dabei, daß nur absolut Flüssiges die Niere verlassen und in den Harn gelangen kann. Die
Angelegenheit wurde nicht weiter verfolgt.
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sicher. Sie verwendete ein ums andere
Mal Stärkekörner (Kartoffelstärke), die sie
unverändert im ausgeschiedenen Harn wiederfand. Und nun die sie umgebende Stille, eigentlich Ablehnung, noch schlimmer Ignoranz. Sie wird es auf ihre
Weiblichkeit und ihre wissenschaftliche
Unbekanntheit zurückgeführt haben und hätte sich
dennoch trösten können, denn auch August von Wassermann (18661925) mit dem Syphilistest 1906 (BM 3/95) und Fritz Schaudinn (18711906) und Erich
Hoffmann (18681959) mit ihrer Entdeckung des Syphiliserregers 1905 (BM 4/95) stießen bei der öffentlichen Präsentation auf
Ablehnung ihrer ärztlichen Kollegen. Irgendwie muß sie das alles schon vorher geahnt haben, denn sie schloß ihren Vortrag: »Das
Erkennen dürfte hier weniger schwierig sein,
als das Bekennen.«2)
Merkwürdigerweise konnte sie sich nicht durchsetzen, auch nicht, als 1910 ein französischer Wissenschaftler ihre Experimente bestätigte. Ihre Urheberschaft geriet Jahrzehnte in Vergessenheit, ehe der Charité-Assistent G. Volkheimer 1957 zufällig auf die damaligen Experimente stieß und die wissenschaftliche Rehabilitierung von Rahel Hirsch veranlaßte. Er tat dies eindrucksvoll, denn er nannte ihre Entdeckung nachträglich »Hirsch-Effekt«. Die Durchlässigkeit der Nierenwand wird seit langem u. a. für diagnostische Zwecke (Kontrastmittel) genutzt. | Der ganze Vorgang besitzt noch eine
äußerst pikante Note in der Person von
Theodor Brugsch. Der wurde 1903 zeitgleich mit Rahel Hirsch Volontär- und dann 1906
außerordentlicher Assistenzarzt bei Kraus und arbeitete mit ihr wissenschaftlich eine Zeitlang eng zusammen. Brugsch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Ordinarius für Innere Medizin an der Charité; die
Innere Klinik trägt heute seinen Namen.
Volkheimer war in den 50er Jahren bei ihm Assistent, Brugsch wußte also von
dessen Feststellungen, und dennoch: In den Memoiren von
Brugsch3) findet sich bei sonstiger Detailiertheit kein Wort zu Rahel Hirsch und ihren Forschungen. Wollte er selbst aus der beschaulichen Sicht des Alters nicht wahrhaben, daß seine Kollegin den wissenschaftlich bedeutenderen Berufsstart hatte?
Im Gegensatz zu anderen Ärztinnen ihrer und der vorangegangenen »Züricher Generation« beteiligte sich Rahel Hirsch nicht aktiv in der Frauenbewegung. Nach bisherigem Überblick gehörte sie keiner der zahlreichen Frauenvereinigungen an. Dennoch existieren von ihr einige Publikationen, in denen spürbar wird, wie sehr sie sich als »weiblicher Arzt« begriff und ihren Geschlechtsgenossinnen auch sozial ausgerichtete medizinische Hilfe angedeihen lassen wollte. Das betraf vor allem die seinerzeit üblichen, gerade von den Ärztinnen aufgegriffenen Themen zur Hygiene, Ernährung | |||||
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und körperlichen Stärkung der Frauen. Ihre 1913 erschienene Publikation »Körperkultur der Frau« umfaßte zwei Vorträge zum damals noch seltenen Thema Frauensport. In bemerkenswerter Übereinstimmung mit der organisierten Frauenbewegung und in bewußter Konfrontation zur etablierten Medizin fügte sie ihrer Betrachtungsweise den biologisch und psychologisch bedingten Besonderheiten der Frau die sozialen Spezifika ihrer Daseinsweise hinzu. Immerhin nutzte sie einen Aufsatz in der angesehenen und vielgelesenen »Münchner Medizinischen Wochenschrift«, um ihren männlichen Kollegen ins Stammbuch zu schreiben, die Frau eben nicht »stets unter dem Gesichtswinkel des Gynäkologen zu betrachten«.4) Exemplarisch für dieses Herangehen ist ihre Methodik bei der Abhandlung über die allgemeine Senkung der Baucheingeweide (Enteroptose) vor allem bei Frauen nach Schwangerschaft.5) Nach ausführlicher Darstellung der Symptome, der Diagnose und des klinischen Erscheinungsbildes dieser damals angesichts zahlreicher Schwangerschaften verbreiteten und daher auch interessierenden Problematik behandelte sie abschließend umfassend die sozial bedingten, von der Schulmedizin nicht ausreichend erfaßten Bereiche von Vorbeugung und Selbsthilfe. Sie empfahl Gymnastik, Automassage und kräftigende Diät und war vor allem der Auffassung, daß der Geburtsakt | nicht zwangsläufig zur Enteroptose
führen muß. Hier erblickte sie ein weites
Betätigungsfeld für Hebammen, die eigentlich dafür noch in keiner Weise ausgebildet wurden. Sie stellte Defizite fest, deren Ursachen sie in unzweckmäßiger
Ernährung ausmachte. Es herrsche »die Unsitte,
die ganze Ernährungsfrage durch über den
ganzen Tag fortgesetztes >Kaffeetrinken< zu
lösen«. Ihr Therapievorschlag: »Kräftigung
der Gesamtmuskulatur des Weibes von >frühester Kindheit< an« und »Erziehung zu
zweckmäßiger Ernährung«.
Eine Professorin ohne Gehalt Ihre Ambitionen lagen zweifellos in der medizinischen Forschung. Immerhin
veröffentlichte sie 30 wissenschaftliche Arbeiten, die fast ausnahmslos während ihrer
Charitézeit entstanden. Bis auf gelegentliche
Zuwendungen bezog sie seitens der Charité jedoch kein reguläres Gehalt. Das ist für die Volontär- und Assistententätigkeit
üblich gewesen. Selbst die Verleihung der
Professur 1913 war mit keinerlei gehaltlichen Verpflichtungen für die Charité verbunden.
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erhielt. So mußte sie neben der
Charitéarbeit ihren eigentlichen Lebensunterhalt als
niedergelassene Ärztin verdienen. Bis 1919 praktizierte und wohnte sie am
Schöneberger Ufer 31.
Im gleichen Jahr verließ sie die Charité, wobei sie Gründe für ihr Ausscheiden nicht publik gemacht hat. Es ist zu vermuten, daß dies mit Theodor Brugsch zusammenhängen könnte, der im März 1919 aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte und dem nunmehr die Leitung der Poliklinik übertragen wurde (gleichzeitig war er stellvertretender Klinikdirektor). Diese Zurücksetzung verwand sie offensichtlich nicht, denn als knapp 50jährige meinte sie, über hinreichende praktisch-ärztliche Erfahrungen in der schon über zehn Jahre ausgeübten Funktion zu verfügen. Gegenüber dem würdigen Frontkämpfer Brugsch besaß sie als Frau und Jüdin die bei weitem schlechteren Karten. So endete ihre ohnehin mit amtlichen Kompromissen und Halbheiten bedachte wissenschaftliche Laufbahn. Sie nahm nun in der Königin-Augusta-Straße 22 Quartier, ehe sie 1928 die Nobeladresse Kurfürstendamm 220 bekanntgab. Dort betrieb sie eine moderne internistische Praxis mit »Röntgenapparaten«. Ihre Patienten werden der Gegend adäquat gewesen sein, so daß sie finanziell ein sorgenfreies Leben führen konnte. Über die näheren Umstände ihres Lebens im Berliner Westen liegen keine weiteren Nachrichten vor. | Selbst für ihre Wissenschaftlerjahre
sind keine Aussagen, z. B. über den Grad
ihrer Verbundenheit mit dem Judentum, bekannt.
Verheiratet war sie nicht. Dieses Schicksal teilte sie mit anderen Ärztinnen der Pionierzeit. Bei Rahel Hirsch waren die normalen Heiratsjahre mit Lehrerausbildung und Medizinstudium gefüllt, während sie danach Kraft und Zeit brauchte, um sich als Ärztin behaupten zu können. Ob sie das Unverheiratetsein belastete und welche Freunde und Bekannte sie überhaupt hatte, ist nicht überliefert. Exil in London Bereits 1933 zog sich Rahel Hirsch vom Kurfürstendamm in die Marheinekestraße 21 zurück. Mit nunmehr 63 Jahren neigte sich ihre ärztliche Tätigkeit ohnehin dem Ende entgegen. Was die NS-Behörden an medizinischer Berufsausübung und Approbation für Juden übrig ließen, nutzte sie auch im Interesse ihrer Leidensgefährten. Sie deutete die Konsequenzen des Münchner Abkommens vom 30. September 1938 als große Gefahr für sich, denn sie flüchtete aus Deutschland. Nur eine knappe Woche nach dessen Abschluß war sie bereits am 7. Oktober 1938 in London. Verwandte dort nahmen sich ihrer an. Als Exilantin durfte sie in ihrem Beruf nicht mehr praktizieren. Es blieb ihr ein Broterwerb als Laborassistentin und später als Übersetzerin. Flucht und | |||||
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Verwehrung der ihr liebgewordenen
ärztlichen Tätigkeit warfen sie deutlich aus
der Bahn. Sie verließ London, begab sich
nach Yorkshire und kehrte erst nach Kriegsende in die britische Hauptstadt zurück.
Depressionen hatten sich eingestellt und
verstärkten sich, Wahnvorstellungen und
Verfolgungsängste im Nachklang von
Erlebnissen im Nazireich suchten sie heim. Die
letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in verschiedenen Nervenheilanstalten. Sie
verschied am 6. Oktober 1953 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in London begraben.
Der medizinischen Nachwelt wurde ihr Name durch das Verdienst von G. Volkheimer erhalten. Alle einschlägigen internistischen Lehrbücher und medizinischen Wörterbücher berichten über den »Hirsch-Effekt«. Der Staat Israel veranlaßte die Aufnahme Rahel Hirschs in die »Galerie berühmter jüdischer Wissenschaftler« in Jerusalem. Seit Mitte September 1995 ziert eine von Susanne Wehland geschaffene Bronzeplastik den alten Hörsaal der Inneren Medizin der Charité und hält auf diese Weise die Erinnerung an die erste Professorin Preußens wach. |
Anmerkungen:
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de