Berlin im Jahr 1872
01. 01. Auf der östlichen Hälfte der Ringbahn von Moabit (in der Nähe des späteren Bahnhofs Beusselstraße) bis Schöneberg (in der Nähe des späteren Bahnhofs Ebersstraße) wird der Personenverkehr eröffnet. Der Güterverkehr lief bereits seit dem 17. Juli 1871.
01. 01. Mit Beginn des Personenverkehrs auf der Ringbahn werden die Bahnhöfe Wedding, Gesundbrunnen, Friedrichsberg (später Frankfurter Allee), Stralau (später Stralau-Rummelsburg bzw. Ostkreuz), Rixdorf (später Neukölln) und Tempelhof in Betrieb genommen.
01. 01. Erstmals erscheint das von Rudolf Mosse gegründete »Berliner Tageblatt«.
02. 01. In Moabit wird mit dem Bau von Isolierbaracken für Pockenkranke begonnen. Später wurde diese als »Barackenlazarett Moabit« bezeichnete Anstalt in ein städtisches Krankenhaus umgewandelt.
16. 01. Die Berliner Universität veranstaltet eine Gedenkfeier zum 300. Geburtstag von Johannes Kepler, bei der der Direktor der Sternwarte, Wilhelm Foerster, einen Vortrag hält. Kepler wurde am 27. Dezember 1571 in Weil der Stadt geboren.
20. 01. Fritz Zahn wird in Gommern bei Magdeburg geboren. Zahn besuchte von 1892 bis 1894 die Königliche Gärtnerlehranstalt, war ab 1903 als Dozent der Gartenkunst an der Lehranstalt tätig und wurde 1911 zum Königlichen Gartenbaudirektor ernannt.
31. 01. In einer Berliner Tageszeitung erscheint zum erstenmal ein Schering-Kurs. Er lautete »110 bz. G.« und bezog sich auf einen Nennwert von 100 Talern. Die Schering Aktiengesellschaft war im Oktober 1871 gegründet worden.
03. 02. General Theophil von Podbielski, während des Frankreichfeldzuges verdienstvoll an der Seite Moltkes im Generalstab, übernimmt vorläufig die neue Aufgabe des Generalinspekteurs der Artillerie mit Sitz in Berlin.
06. 02. Der Baukondukteur Johann Wilhelm Wedding, der 1827 Lehrer am Gewerbeinstitut in der Klosterstraße (Mitte) wurde, stirbt in Berlin.
08. 02. Die Stadtverordnetenversammlung bewilligt 450 000 Mark zum weiteren Ausbau von Isolierbaracken für Pockenkranke in Moabit.
11. 02. Hans Hallervorden wird in Sensburg (Ostpreußen) geboren. Nach seiner Lehrzeit im Schloßgarten Bellevue von 1892 bis 1894 besuchte er die Gärtnerlehranstalt. In den Jahren 1899/1900 war er erster Garteningenieur bei der Neuanlage des Botanischen Gartens.
15. 02. Erich Kunheim wird in Berlin geboren. Der Chemiker gründete die chemische Fabrik Kunheim & Co. und leitete sie bis zur Umwandlung in eine Aktiengesellschaft.
19. 02. Auf der Strecke zwischen Berlin/Lehrter Bahnhof (Tiergarten) und Hannover verkehren Eisenbahnzüge mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h.
08. 03. Kaiser Wilhelm I. adelt Gerson Bleichröder, einen der reichsten Berliner Bankiers, der auch der Privatbankier des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck war.
09. 03. Der erste Berliner Presseball findet statt.
15. 03. Für ein 70 m langes viergeschossiges »Comptoir- und Magazingebäude« in der Fennstraße 4 (Müllerstraße 170/171, Wedding), der »Chemischen Fabriken auf Actien« (vormals E. Schering) wird die Bauerlaubnis erteilt.
21. 03. Die Stadtverordneten wählen Arthur Hobrecht mit 55 gegen 47 Stimmen zum Oberbürgermeister. Hobrecht trat in diesem Amt am 1. April die Nochfolge von Karl Theodor Seydel an.
26. 03. Der Publizist Friedrich Wilhelm Alexander Held stirbt in Berlin. Held hatte 1848 eine bedeutende Rolle als populistischer und demagogischer Agitator gespielt. Held war u.a. Herausgeber der »Staatsbürger-Zeitung (Alte Held'sche)«.
01. 04. Der Nationalliberale Arthur Hobrecht wird neuer Oberbürgermeister, Nachfolger von Karl Theodor Seydel, der das Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgibt. Hobrecht trug in der Gründerzeit wesentlich zur Durchsetzung der kommunalen Selbstverwaltung bei.
01. 04. Der Mathematiker Prof. Martin Ohm stirbt in Berlin. Ohm kam 1821 nach Berlin und lehrte u.a. an der Berliner Universität.
02. 04. Der Berliner Philologe und Buchhändler Gustav Friedrich Konstantin Parthey stirbt in Rom.
04. 04. Stadtrat Hermann Duncker wird von der Stadtverordnetenversammlung zum Bürgermeister (und damit zum Stellvertreter des Oberbürgermeisters) gewählt.
08. 04. Iwan Bloch wird in Delmenhorst (Oldenburg) geboren. Der Hautarzt und Mitbegründer der Sexualwissenschaft arbeitete viele Jahre in Berlin.
12. 04. Der Industrielle Werner Siemens schreibt seinem Bruder Karl: «... Es geht uns jetzt recht schlimm mit Arbeitskräften. Die guten werden uns weggeholt, um Telegraphen-Inspektoren zu werden und neue kommen nicht ...
22. 04. Innerhalb von sechs Stunden fallen in Berlin Niederschläge in einer Höhe von 24,7 mm.
29. 04. In einem Gutachten spricht sich die Akademie der Wissenschaften in Berlin gegen eine organische Verbindung der beiden Forschungszweige »Physik der Erde« (Geophysik) und »Physik des Himmels« (Meteorologie) aus.
06. 05. Die Hochschule der Wissenschaft des Judentums wird in Berlin eröffnet.
07. 05. Das »Barackenlazarett Moabit« wird als städtisches Krankenhaus eröffnet. Es entstand aus den mit städtischen Mitteln errichteten Isolierbaracken zur Bekämpfung der 1871 ausgebrochenen Pockenepidemie.
08. 05. Der Kronprinz und die Kronprinzessin übernehmen das Protektorat für eine Ausstellung älterer kunstgewerblicher Gegenstände im Berliner Zeughaus. Sie leiteten persönlich die Auswahl der Kunstwerke.
17. 05. Der Tiermediziner Werner Theodor Johann Spinola stirbt in Berlin. Spinola war von 1833 bis 1870 Mitarbeiter und Lehrer an der Tierarzneischule in Berlin. Sein Lehrgebiet war spezielle Pathologie und Therapie.
04. 06. Die Zeitung »Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen« nimmt offiziell den Namen »Spenersche Zeitung« an. Im Volksmund hieß sie in Analogie zur »Tante Voß«, wie die »Vossische Zeitung« genannt wurde, »Onkel Spener«.
04. 06. Der akademische Gesangsverein »Motiv« beginnt sein Stiftungsfest. Er war vor 25 Jahren von Eleven der Bauakademie gegründet worden. Während des dreitägigen Festes fanden an der Bauakademie keine Vorlesungen statt.
04. 06. Für ein neues Gebäude des General-Postamtes wird in der Leipziger Straße 15 (Mitte) der Grundstein gelegt. Nach 1918 wurde es Sitz des Reichspost-Ministeriums.
06. 06. Vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus hält Prof. Rudolf Virchow eine Rede zur Tierarzneiwissenschaft (die »nicht nur Tierzucht« sei), um ihren wissenschaftlichen Stellenwert in der Wissenschaftslandschaft Berlins zu heben.
10. 06. Die Französisch-Reformierte Gemeinde von Berlin begeht in der Friedrichstädtischen Kirche das Fest ihres zweihundertjährigen Bestehens.
18. 06. Eine siebenköpfige Familie wird durch einen Schutzmann vom Polizeipräsidium zum Arbeitshaus gebracht. Sie war auf der Durchreise von Oberschlesien nach Hamburg und wollte sich unterwegs das Überfahrtsgeld nach Amerika erbetteln.
24. 06. Für die 168,75 km lange Strecke der Berlin-Dresdener Bahn wird die Konzession für das preußische Gebiet erteilt.
08. 07. Die Dedlowsche Mühle, die letzte der auf dem Windmühlenberg (Prenzlauer Berg) gelegenen Mühlen, brennt vollständig nieder.
23. 07. Anstelle des »Zentralbureaus« des Zollvereins wird das Kaiserliche Statistische Amt mit Sitz in Berlin ins Leben gerufen.
23. 07. Die Tierarzneischule Berlin wird dem Ministerium für landwirtschaftliche Angelegenheiten unterstellt.
25. 07. Die Exmittierung eines armen Handwerkers aus seiner Wohnung in der Blumenstraße 52 c ist Anlaß zu Tumulten, die sich gegen Wohnungselend, Wuchermieten und Zwangsräumungen richten. Berittene Polizei trieb die 4 000 bis 5 000 erregten Berliner auseinander.
25. 07. Rektor und Senat der Berliner Universität stellen einen Antrag an das Kultusministerium, in dem die selbständige Leitung der Universitätsbibliothek gefordert wird.
28. 07. Die Hedemannstraße (Kreuzberg) erhält ihren Namen.
30. 07. Der Mathematiker Karl Heinrich Schellbach von der Berliner Kriegsschule legt dem preußischen Kultusministerium eine Denkschrift vor, in der er das niedrige Niveau der deutschen Präzisionsmechanik kritisierte.
31. 07. Der am 25. Juli ausgebrochene offene Aufstand von ca. 4 000 Bürgern gegen Mietwucher und Wohnungsnot (Blumen-/Ecke Krautstraße, Friedrichshain) wird von der Polizei niedergeschlagen.
08. 08. Der Maler Eduard Magnus stirbt in Berlin. Magnus war Hauptvertreter einer realistischen Berliner Porträtmalerei.
09. 08. Auf einer Versammlung der Klempnergehilfen wird der einstimmige Beschluß gefaßt, mit aller Energie für den zehnstündigen Normalarbeitstag einzutreten.
11. 08. Das von dem Bildhauer Erdmann Encke geschaffene Jahn-Denkmal wird am alten Turnplatz in der Hasenheide (Neukölln) enthüllt. Der Lehrer, »Turnvater«, Friedrich Ludwig Jahn hatte dort ab 1811 regelmäßig mit seinen Gymnasiasten Leibesübungen veranstaltet.
11. 08. Die Lübbener Straße (Kreuzberg) erhält ihren Namen.
17. 08. Die in Berlin erscheinende regierungsnahe »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« wird von der Norddeutschen Bank und den Hamburger Kaufleuten Heinrich und Albertus Ohlendorff übernommen. Die verantwortliche Leitung des Blattes oblag fortan Emil Pindter.
21. 08. David Kalisch, politisch-satirischer Publizist, Mitbegründer des »Kladderadatsch«, stirbt in Berlin.
27. 08. In der Nacht vom 26. zum 27. August umstellen Polizisten die aus 22 Baracken bestehenden Obdachlosenunterkünfte vor dem Landsberger Tor, reißen die Bewohner aus dem Schlaf, transportieren die Möbel ab und zerstören die Unterkünfte.
30. 08. Der neu gebaute Potsdamer Bahnhof (Tiergarten) wird von Kaiser Wilhelm I. bei seiner Rückkehr aus Bad Gastein erstmals benutzt. Der öffentliche Verkehr begann am 1. November.
01. 09. Im Zeughaus in Berlin wird eine Ausstellung älterer kunstgewerblicher Gegenstände durch den Kronprinzen eröffnet.
05. 09. Carl Friedrich Siemens wird als jüngster Sohn des Ingenieurs Werner Siemens (1888 geadelt) in Berlin geboren. Seit 1919 hatte er den Verwaltungsvorsitz des Siemens-Konzerns inne und wurde 1924 Präsident des Verwaltungsrates der Deutschen Reichsbahn.
07. 09. Zu Ehren des »3-Kaiser-Treffens« (Wilhelm I., Franz Joseph I. und Alexander II.) findet im Lustgarten (Mitte) ein Großer Zapfenstreich mit 1 200 Militärmusikern statt.
08. 09. In Berlin beginnt ein dreitägiges Treffen des deutschen Kaisers Wilhelm I., des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. und des russischen Zaren Alexander II.
15. 09. Die Eisenbahn-Zweigbahn Fredersdorf - Rüdersdorf wird eröffnet.
19. 09. Der Berliner Zoo (Tiergarten) erhält ein Pärchen indischer Panzernashörner.
21. 09. Eine an den Kronprinzen gerichtete Denkschrift Karl Heinrich Schellbachs zur Unterstützung der Präzionsmechanik wird von diesem an das »Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten« weitergeleitet.
27. 09. Für die 168,75 km lange Strecke der Berlin-Dresdener Bahn wird die sächsische Konzession erteilt.
30. 09. Die im Berliner Zoo (Tiergarten) im September 1871 eingetroffene erste indische Panzernashornkuh wird wieder verkauft.
01. 10. Die Obdachlosensiedlung »Barackia« auf den Schlächterwiesen am Landwehrkanal, in der mit ordentlich abgeschlossenen Pachtverträgen 90 Familien in 52 Unterkünften lebten, wird nach sechsmonatiger Existenz wegen des bevorstehenden Winters aufgelöst.
11. 10. Der Berliner Unternehmer Julius Pintsch errichtet nördlich des Bahnhofs in Fürstenwalde ein Zweigwerk. Die in den Pintsch-Werken gefertigten Gasmesser, Zugbeleuchtungen, Leuchtbojen und Glühlampen waren bald auf der ganzen Welt gefragt.
15. 10. Der Kupferstecher August Hoffmann stirbt in Berlin. Seine Arbeiten zeichneten sich durch meisterhafte Führung des Stichels, große Klarheit der Töne und kräftige Gesamtwirkung aus.
19. 10. Das Statistische Amt Berlins wird durch Beschluß der Stadtverordnetenversammlung als dauernde Einrichtung anerkannt, nachdem es bereits im Februar 1862 als Provisorium errichtet worden war.
28. 10. Der Philologe und Lehrer Dr. Adolf Hart, der nach Tätigkeiten am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster und an der Ritterakademie in Brandenburg/Havel ab 1864 am Luisenstädtischen Gymnasium in Berlin angestellt war, stirbt in Stettin an Typhus.
01. 11. Der neu erbaute Potsdamer Bahnhof (Tiergarten) wird dem öffentlichen Verkehr übergeben, nachdem er bereits am 30. August von Kaiser Wilhelm I. benutzt wurde.
08. 11. Der Philologe und Pädagoge Moritz Ludwig Seyffert stirbt in Potsdam. Ab 1846 lehrte er als Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin.
16. 11. Der Magistrat beantragt in der Stadtverordnetenversammlung die Ausführung des Radial-Systems III der Kanalisation. Damit konnte der Bau der Kanalisation beginnen.
17. 11. Im Berliner Zeughaus wird die Ausstellung alter kunstgewerblicher Gegenstände, die von mehr als 60 000 Personen besucht wurde, geschlossen.
28. 11. Carl August Ferdinand Kahlbaum, Firmengründer der Chemischen Fabrik C. A. F. Kahlbaum, stirbt in Berlin.
30. 11. Im Königlichen Schauspielhaus hat das Stück »Maria und Magdalena« von Paul Lindau Premiere.
08. 12. Der märkische Geschichtsforscher Adolf Friedrich Riedel stirbt. Riedel war 1868 von Kaiser Wilhelm I. zum »Historiographen der Brandenburgischen Geschichte« ernannt worden. Er war Mitbegründer des Vereins für die Geschichte der Mark Brandenburg.
13. 12. Die neue preußische Kreisordnung wird im Gesetzblatt publiziert. Sie trat am 1. Januar 1874 in Kraft. Auf dieser Grundlage wurden u.a. Zehlendorf, Schönow und der Gutsbezirk Düppel zu einem Amtsbezirk vereinigt.
15. 12. Der Bahnhof Lichterfelde (Lichterfelde West) der Berlin-Potsdamer Eisenbahn wird eröffnet.

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