98   Geschichte und Geschichten Hochbahnunglück  Nächste Seite
Heinz Gläser
Gefährliches Gleisdreieck

Das Hochbahnunglück vom 26. September 1908

Seit 1902 fahren in Berlin Hochbahnen auf etwa 5 bis 10 Meter über der Straße errichteten Viadukten. Zu den Hochbahnhöfen gehört auch der Bahnhof Gleisdreieck. Er wurde als Kreuzungsbauwerk auf verschiedenen Ebenen des Hochbahnnetzes errichtet. Zwischen diesen sich kreuzenden Linien wurde eine direkte Gleisverbindung geschaffen, so daß ein Gleisdreieck entstand, das dieser Station den Namen gab.
     Zwei Züge kamen sich auf dieser Verbindung entgegen – einer von ihnen hatte ein Signal überfahren. So kam es zu einer Flankenfahrt, und beide Züge prallten zusammen. Nach dem Aufprall fuhren sie noch etwa 20 Meter weiter. Ein Zug blieb auf den Gleisen, von dem anderen wurde der vorderste Wagen aus dem Gleis gedrückt. Dieser Wagen schob sich über die Brüstung und stürzte ab: »Im Sturz aus etwa 10 Metern Höhe drehte er sich und fällt auf den schwachen Oberbau, der von dem über 17 Tonnen schweren Untergestell zermalmt wird. Der zweite Wagen ist, bevor die Kupplung reißt,

ebenfalls entgleist und wird vom abstürzenden Wagen noch zu einem Teil über die Brüstung gezogen, bleibt aber hängen und droht nun herunterzustürzen.«
     Ein Augenzeuge berichtete damals: »Ich hatte gegen 2 Uhr nachmittags auf dem Bahnhof Leipziger Platz (Gemeint ist: Potsdamer Platz H. G.) einen nach Osten fahrenden Zug der Hochbahn bestiegen und befand mich im Vorderteil des ersten Wagens der 3. Klasse, so daß ich auf das Gleis der Potsdamer Bahn sehen konnte. Als wir auf das Gleisdreieck fuhren, sah ich bei der Biegung einen Zug aus dem Westen herankommen und nahm an, daß dieser wie gewöhnlich halten würde, um uns die freie Durchfahrt nicht zu verhindern. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, daß der fremde Zug dem gleichen Gleis zustrebte wie wir. In unverminderter Schnelligkeit ging es vorwärts. Auf der Höhe der Gebäude der Kühlhallengesellschaft in der Luckenwalder Straße trafen die beiden Züge aufeinander. Es gab einen furchtbaren Krach und einen Aufprall, die Fahrgäste wurden durcheinander geworfen, und als ich selbst stürzte, sah ich noch den Wagen des anderen Zuges in die Tiefe gleiten.«
     Ein anderer Fahrgast schilderte das Unglück so: »Mein Vater, meine Schwester und ich bestiegen an der Haltestelle Bülowstraße den ersten Wagen des nach Osten fahrenden Zuges. Wir hatten das Gleisdreieck passiert und wollten gerade auf das normale Niveau
SeitenanfangNächste Seite


   99   Geschichte und Geschichten Hochbahnunglück  Vorige SeiteNächste Seite

Die Unfallstelle

des Hochbahngleises bei den Kühlhäusern gelangen. Da wir mit dem Rücken zu den Nebengleisen saßen, bemerkten wir nicht, daß sich ein anderer Zug unserem näherte. Plötzlich sprangen die uns gegenüber sitzenden Fahrgäste mit Schreien des Entsetzens und der Angst von ihren Plät zen. Im gleichen Augenblick bekam unser Wagen einen furchtbaren Stoß. Die Scheiben flogen in unseren Wagen, und der Wagen schwankte und stürzte in die Tiefe. Ich hatte die Haltegriffe vor der Ausgangstür erfaßt und hing nun mit ausgebreiteten Armen in der Luft, wie in einer Schaukel.
SeitenanfangNächste Seite

   100   Geschichte und Geschichten Hochbahnunglück  Vorige SeiteNächste Seite

Bahnhof Gleisdreieck, zeitgenössische Darstellung von 1902

Glücklicherweise überschlug sich der Wagen nicht, sondern fiel auf die rechte Seite, so daß ich mit den Füßen voran zu Boden kam und durch die nach oben stehende Tür einen Ausweg fand. Ich hörte noch entsetzliches Schreien und Stöhnen, dann wurde ich von mehreren Personen fortgetragen.«
     Für die Berliner Feuerwehr wurde Großalarm ausgelöst. Die beiden zuerst an der
Unglücksstelle ankommenden Züge der Kompaniewache Schöneberger Straße – es handelte sich um sogenannte Rettungswagen – forderten unter dem Stichwort »Mittelfeuer« weitere Hilfe an.
     Zu jener Zeit wurden die Löschzüge der Berliner Feuerwehr gerade mit zusätzlichen Geräten und Ausrüstungen für technische Hilfeleistungen ausgestattet: Dazu gehörten Taue, Winden, Ketten, Schachtbauholz,
SeitenanfangNächste Seite

   101   Geschichte und Geschichten Hochbahnunglück  Vorige SeiteAnfang
Flaschenzug, Dreibock usw. Diese als Rettungswagen bezeichneten Fahrzeuge wurden ab 1907 eingesetzt, und auch bei dem Hochbahnunglück am 26. September 1908 bewährten sie sich.
     Der Besatzung der beiden Rettungswagen gelang es mit Hilfe der Gerätschaften, das Wagengestell des abgestürzten Wagens soweit anzuheben, daß sich Feuerwehrmänner darunter zwängen und mit der Bergung der Verletzten beginnen konnten.
     Die Mannschaften der weiteren, in kurzen Abständen eintreffenden Züge entfernten die Trümmer so weit wie möglich und sicherten den vom Absturz bedrohten Wagen durch Herumschlingen starker Taue um das Dach und durch eine Brückenkonstruktion, ständig in Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden wie die bereits Verunglückten.
     Bei diesem Unglück verloren 18 Fahrgäste ihr Leben. Da die Feuerwehr damals kaum selbst Krankentransporte durchführte, rief die Feuerwehrzentrale den Verband für Erste Hilfe zur jeweiligen Unfallstelle. So wurden die 20 Verletzten mit Krankenwagen des Verbandes für Erste Hilfe in Krankenhäuser gebracht.
In Auswertung dieses Unfalles wurde 1909 ein Abkommen unterzeichnet, wonach auf das jeweilige Feuerwehrstichwort ein oder zwei Krankentransportwagen an der Feuerwehreinsatzstelle erscheinen sollten. Die Wagen blieben solange an der Einsatzstelle, bis sie der Einsatzleiter der Feuerwehr entließ.
     Als es 1912 am Gleisdreieck nochmals zu einem ähnlichen Unglück kam, wurde die Dreiecksverbindung zugunsten eines Kreuzungsbauwerkes auf zwei Ebenen aufgegeben.

Bildquelle: Repro Autor, Archiv

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de