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Eva Ziebura
Prinz Heinrich von Preußen

Stapp Verlag, Berlin 1999

Die Zahl der Biographien zu Friedrich II. (»dem Großen«; 1712–1786, König ab 1740) ist Legion – die seines Bruders Heinrich (1726–1802) beträgt bisher gerade vier (wenn man Christian v. Krockows Doppelbiographie von Friedrich und Heinrich, Stuttgart 1996, mitrechnet, so sind es fünf). Als neueste legt nun die Verfasserin in der verdienstvollen Reihe »Preußische Köpfe«, mit der sich der Stapp Verlag schon einen Namen gemacht hat – immerhin hat die Reihe es jetzt auf 35 Titel gebracht! –, das Ergebnis jahrzehntelanger Studien vor. Sie hat nicht nur die umfangreiche gedruckt zur Verfügung stehende Literatur fleißig und verständnisvoll ausgewertet, sondern auch die – trotz der Verluste, die dem Zweiten Weltkrieg geschuldet sind – noch reichlich vorhandenen ungedruckten Quellen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in den dortigen Rep. 56 und 57 sowie Rep. 133 (Königliches Hausarchiv) herangezogen, die seit 1937 nicht mehr benutzt wurden.
     Als geradezu sensationell aber muß ihr Aufspüren des schriftlichen Nachlasses von Heinrichs letztem Adjutanten, Antoine Charles Etienne Paul de La Roche-Aymon (1772–1849), bewertet werden, das man dem Optimismus einer besessenen Forscherin verdankt, die nach dem Pariser Fernsprechbuch alle Laroche-Aymons durchtelefoniert hat, bis sie auf den Urgroßneffen des prinzlichen Vertrauten traf, der ihr bereitwillig Zugang zu dem Familienarchiv gewährte. Diese in einem französischen Schloß aufbewahrten Familienpapiere erwiesen sich als eine wahre Fundgrube für Heinrichs bisher nur aus dem Blickwinkel eines beschaulichen Mini-Hofes in

Rheinsberg gesehenen letzten Lebensjahrzehnts. Die von dem prinzlichen Adjutanten im Konzept zu Papier gebrachten Denkschriften Heinrichs zur preußischen Außenpolitik, die im Original verloren scheinen (oder in der Jagellonischen Bibliothek in Krakau vor sich hindämmern?), eröffnen völlig neue Blicke auf eine wache Anteilnahme eines kritisch- analytischen Geistes an dem zu seinem Leidwesen konzeptionslosen Gang der preußischen Reichs- und Europapolitik um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Zum Erstaunen bzw. Entsetzen des Rezensenten sind des Ancienrégime-Prinzen Analysen nach zwei Jahrhunderten wieder von bestürzender Aktualität, was seine Polemik gegen die aus seiner Sicht absolut unnötige Unterwerfung der deutschen – Pardon, damals preußischen! – Politik unter die europapolitischen Interessen anderer Großmächte mit ihren egoistischen Motiven betrifft. Auf einem eigenen Ruhmesblatt steht, daß die Verfasserin sich – offenbar erfolgreich – in das Abenteuer stürzte, Konzeptschrift in französischer Sprache zu entziffern und durch die Doppelleistung von Transkription und Übersetzung dem deutschsprachigen Leser zugänglich zu machen. Wer selbst einmal Ähnliches zu vollbringen hatte, weiß diese Leistung hoch einzuschätzen.
     Der Berliner kennt den jüngeren Bruder des »Alten Fritz« im Normalfall nur durch das Gebäude der Humboldt-Universität, das als Palais des Prinzen Heinrich 1748–1766 entstand, und durch das schöne Kapitel »Rheinsberg« aus dem Band »Die Grafschaft Ruppin« von Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. Als Militär, der seinem Bruder Friedrich in der Kunst der Kriegsführung überlegen war, erschließt er sich dem Spezialisten aus dem Generalstabswerk über den Siebenjährigen Krieg (das Eva Ziebura in ihrer Literaturübersicht nicht anführt), wenngleich Fridericus-Fans seit nun mehr als sieben Jahrzehnten das nicht wahrhaben wollen: Heinrich hat seine militärischen Reserven stets viel
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überlegter eingesetzt und mit weniger Aufwand mindestens genauso viele zählbare Erfolge auf sein soldatisches Konto gebucht wie sein Bruder. Außerdem behandelte er das okkupierte Sachsen – mit dessen Kontributionen Friedrich den Siebenjährigen Krieg führte, als sein Kriegsschatz erschöpft war – sehr viel rücksichtsvoller als der König. Der von Franz Mehring in seiner »Lessing-Legende« ausgegossene hohnvolle Spott über die vom Autor der »Minna von Barnhelm« dort eingefügte Deus-ex-machina- Szene, in der der dramatische Knoten durch einen allergnädigsten Fridericus-Brief gelöst wird (Mehring will den Brief als blanke Ironie Lessings verstanden wissen!), gibt über den Umweg des damaligen Gegenwartsstückes immerhin einen Einblick in das Niveau der Wertschätzung des Prinzen Heinrich. Lessing läßt den König zugunsten des verzweifelten Tellheim eingreifen, weil sein Bruder (!) ihn über Tellheims großherziges Wechselgeschäft aufgeklärt hat! Friedrich, der keine hohe Meinung von den »Prinzen von Geblüt« hatte und das in seinem Testament von 1752 auch schriftlich fixierte, hat Heinrich nachweisbar (und das wird im vorliegenden Band überzeugend belegt) mit widersprüchlich auslegbaren Weisungen bombardiert, damit er ihn im Falle eines Negativausgangs ebenso zusammendonnern konnte, wie er es bei dem vier Jahre älteren Bruder August Wilhelm (1722–1758) getan hatte. Den desavouierte er vor dessen Armeekorps dermaßen, daß er sich zurückzog, mit dem Leben abschloß und ärztliche Hilfe verweigerte, so daß er die Schande nur um ein knappes Jahr überlebte (was nun wiederum den jüngsten Bruder Ferdinand, 1730–1813, veranlaßte, sich »wegen schwacher Gesundheit« ganz aus dem Militärdienst zu verabschieden).
     Heinrich, der schon vorher ein äußerst distanziertes Verhältnis zu dem seit 1745 mit dem Epitheton »der Große« geschmückten königlichen Bruder hatte, verzieh dieses menschenverachtende Gebaren
dem Throninhaber bis über dessen Grab hinaus nicht (1791 weihte er im Schloßpark Rheinsberg den Obelisk zur Erinnerung an August Wilhelm ein) – ebensowenig wie die Kujoniererei, der er von der Seite des Familienoberhauptes ausgesetzt worden war, um in eine Heirat einzuwilligen, über deren Last für den homosexuellen Bruder der gleichfalls homosexuelle Friedrich (der sich einen Spaß daraus machte, Heinrich bis zur Weißglut zur Eifersucht zu reizen) sich keine Illusionen machte. Heinrich sprach dann in seinen unzähligen Briefen an den jüngsten Bruder Ferdinand auch oft genug voller Haß über den Älteren, nannte ihn gar eine »Bestie« (1764; S.176). Nach dem Bayerischen Erbfolgekrieg, der wahrlich kein Ruhmesblatt für Friedrichs politisches wie militärisches Genie darstellte, äußerte sich Heinrich z. B. sarkastisch über des Königs »Heucheleien, seine Bosheiten, Launen und seine ausgeprägte Fähigkeit, die Menschen zu täuschen« (1779; S. 279). Als Friedrich quasi schon auf dem Totenbett lag und nun wohl in einer letzten Versöhnungsgeste Heinrich noch einmal zu umarmen wünschte, schrieb der also Geehrte an Prinz Ferdinand, daß er schon wisse, daß es nach des Königs Tode für die Familie weniger Dornen geben werde als in den 46 Jahren von dessen Regierungszeit. »Ich weiß genau, daß ich über den Tod eines sehr bösen Menschen nicht weinen kann, den ich gezwungen war, ein ganzes Leben wie ein Damoklesschwert über meinem Haupte zu ertragen« (1786; S. 315). Allerdings relativiert sich die von Heinrich so gepflegt erhaltene Abneigung zwischen beiden Brüdern, wenn man immer wieder lesen muß, daß Heinrich an seinem (man sagt ja euphemistisch »kunstsinnigen«, aber der Wahrheit näherkommend wäre doch »vergnügungssüchtigen«) Rheinsberger Hof trotz mancher Sparmaßnahmen mit seinem Geld nicht auskam und mehr als einmal auf Zuwendungen aus Friedrichs bzw. des Staats Schatulle angewiesen war. Ungeschminkt, wenn auch ohne jede heuchelnde
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moralische Entrüstung, stellt die Verfasserin auch dar, wie ungehemmt der Prinz seiner Veranlagung zur »griechischen Liebe« nachgab und dabei u. a. von dem Adjutanten Kaphengst (1740–1800), der seit 1764 für zehn Jahre sein Günstling (sprich: Bettgenosse) war, in geradezu unverschämter Weise ausgenommen wurde. Wenn Fontane in seinem »Rheinsberg«-Kapitel schreibt, Friedrich habe 1774 dem Rheinsberger Prinzen 10 000 Goldstücke übersandt zusammen mit dem gemessenen Befehl, den Major Kaphengst zu entlassen, »eine Ordre, deren Wortlaut sich hier der Möglichkeit der Mitteilung entzieht« – dann mußte der Leser von 1861 vielleicht herumrätseln, was gemeint war; der Leser ausgangs des 18. wie der vom Ausgang des 20. Jahrhunderts bedürfte zur Entschlüsselung der apokryphen Sentenz keines Codes.
     Heinrichs Hoffnung, unter dem Nachfolger Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) mit seinen Vorstellungen etwas mehr Einfluß auf die preußische Politik zu gewinnen, schlug fehl. Zutiefst mit den Gedanken der Aufklärung verbunden, war er den Dunkelmännern in der Umgebung des »dicken Wilhelm« zu verdächtig, und als er, ganz und gar Franzosenfreund, aus seinem aufklärerischen Impetus heraus gar die Französische Revolution begrüßte, war er vollends verdächtig und galt nach 1792 als »der republikanische Prinz«, dem hinter vorgehaltener Hand selbst Jakobinismus angedichtet wurde. Dabei versuchte Heinrich lediglich, mit Vernunftgründen dafür zu werben, daß Preußen mit einem konstitutionellen bzw. gemäßigt- republikanischen Frankreich zusammen einen Machtfaktor darstellen könne, der die jeweils durch Erpressung erzwungene preußische Schaukelpolitik zwischen den beiden großen Kontinentalmächten Rußland und Habsburg (letzteres mitsamt seiner Klientel besonders unter den deutschen geistlichen Reichsfürsten) endlich beenden und Preußen aus der unwürdigen Rolle eines Erfüllungsgehilfen dieser beiden Mächte befreien
würde. Schön ist es, nun zu wissen, daß es im Dunstkreis der preußischen Politik, die seit Sommer 1792 im habsburgischen Fahrwasser durch die Invasion Frankreichs die Geschäfte der Extremisten in Paris wie jener in der Cidevant-Emigration besorgte, es dennoch ein Zentrum der – natürlich (!) verleumdeten – Antikriegspartei gab: Es befand sich in Rheinsberg! Da die Haugwitz-Papiere der Forschung nicht zur Verfügung stehen, ist es (wenigstens zur Zeit) nicht bis zum Letzten möglich, den Anteil der Prinz-Heinrich-Partei am Ausscheren Preußens aus dem blödsinnigen Krieg mittels des Friedens von Basel aufzuklären. Nach dem, was Eva Ziebura mitteilt, war er jedenfalls sehr hoch! Dank hat Heinrich für seinen hohen Einsatz in den leitenden Kreisen der preußischen Politik jedoch kaum gefunden. Die Autorin tippt sehr subtil an, was der ganz dem aufklärerischen 18. Jahrhundert verhaftete Heinrich nicht im Geringsten zu beachten in der Lage war, nämlich ein im meinungsmachenden Bildungsbürgertum aufdämmerndes Nationalbewußtsein, das sich auf einen nationalen Erzfeind fixierte, der die mythisch verklärten Reichsgrenzen in Frage stellte. Die Verantwortlichen für die preußische Politik quälten sich also mit ihrem schlechten Gewissen vor dem »Reich« herum, während die (dank dem Baseler Frieden) sicher in ihren als neutral geschützten Territorien friedlicher Arbeit nachgehenden Bewohner sich ihres Lebens freuten.
     Nicht hoch genug einzuschätzen ist der Erkenntnisgewinn, daß Prinz Heinrich offensichtlich der erste war, der – im September 1795, fünf Monate nach dem Frieden von Basel – in einer seiner Denkschriften an den preußischen Außenminister Haugwitz (1752–1832) wie auch in einer Ausarbeitung vom Sommer 1796 für den französischen Gesandten jene Grundgedanken skizzierte, die sich 1803 im Reichsdeputationshauptschluß realisierten und damit für das staatsrechtliche Gefüge des Heiligen Römischen
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Reichs einen erheblichen Schritt aus dem hohen Mittelalter heraus in die völkerrechtlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts vollzogen.
     Wie groß muß seine Enttäuschung gewesen sein, als er auch im neuen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) nicht den Ansprechpartner für seine politischen Analysen fand. Er hatte diesem schon in dessen letztem Kronprinzen- Jahr ein Memorandum zugeleitet, und die darauf folgende nichtssagende Antwort hatte ihm gereicht, um mit seinem scharfen analytischen Verstand vorauszusehen, welchen Inhalt auch unter diesem Monarchen die preußische Politik aufweisen werde: Lauheit für den Frieden plus Zaghaftigkeit in Allem mit dem Ergebnis »Null«, zugedeckt von höflichen Phrasen (S. 413). Als der Kronprinz dann im November 1797 den Thron bestieg, war Heinrich sofort mit drei Denkschriften zur Hand, die sich mit Außenpolitik, Militärwesen und Behördenorganisation beschäftigten. Erstaunt stellt man fest, daß alle Grundprinzipien der Reorganisation der obersten Staatsbehörden von 1810 bereits in diesen Heinrichschen Überlegungen vorgezeichnet sind! Die königliche Reaktion entsprach allerdings genau der Charakteristik, die Heinrich sich schon im Jahr zuvor zusammengereimt hatte. Nicht ohne Bewegung liest man, daß dagegen Königin Luise (1774–1810) sich durchaus auf das Urteil des alten Onkels zu verlassen gewillt war, als sie sich im Bewußtsein ihrer ergänzungswürdigen Bildung von ihm eine Literaturliste zusammenstellen ließ, um durch das Studium nützlicher Bücher ihren Horizont zu erweitern. Die vom Prinzen gelieferte Liste hat im Nachlaß von La Roche-Aymon überlebt – und sie gibt einen tiefen Einblick in das geistige Umfeld eines aufgeklärten Freigeistes des 18. Jahrhunderts, der total auf das Mutterland der Aufklärung fixiert war. Die Liste nennt nur griechische und lateinische Klassiker, französische Historiker, Moralisten und Philosophen und als Belletristik allein den Bildungsroman »Télemaque«(1699) des
Abbé Fénelon (1651–1715). Wie sein königlicher Bruder nahm auch Heinrich die geistige Entwicklung im deutschen Sprachgebiet seit der Zeit, in der er seine Bildung empfing, einfach nicht zur Kenntnis.
     Allmählich wurde Heinrich müde, dem Wind zu predigen – er resignierte. Beunruhigt verfolgte er den Aufstieg Napoleons, dessen militärisches Genie er rückhaltlos anerkannte, den er aber früh als Totengräber der Französischen Republik voraussah, der er sich als Hohepriester der Vernunft (S. 359) zutiefst verbunden fühlte: »Ich glaube, daß er weder für die Humanität noch für das Glück der Menschen eintritt. Dieser Mann wird Frankreich am Ende nur das Bedauern lassen, ihm sein blindes Vertrauen geschenkt zu haben.« (S. 445) Seine letzte bemerkenswerte Aktivität war das Vorantreiben des Baus jener Pyramide im Park von Rheinsberg, in der er seine letzte Ruhestätte finden wollte. Vergebens wird der Tourist jenen Punkt unter einem der Schloßfenster suchen, wo Heinrichs Adjutant La Roche-Aymon und der Schwerenöter Prinz Louis Ferdinand (1772–1806) sich duellierbereit gegenüberstanden, weil der keine Gelegenheit auslassende Prinz mit der jungen Gattin des Adjutanten wohl nicht nur geflirtet hatte. Fontane beschreibt uns die Situation zwar sehr hübsch – aber der Vorfall ist, wie wir nun aus den Papieren des beteiligten La Roche-Aymon erfahren, nach Königs Wusterhausen zu verlegen, wo sich Heinrich seit Sommer 1798 gelegentlich aufhielt, um Berlin näher zu sein.
     Für die schöne Ausstattung und das saubere Druckbild ist dem Verlag ebenso zu danken wie für den Entschluß, das selbstgesetzte Limit an Druckbögen, das den bisherigen Bänden der Reihe zugemessen war, zu überschreiten. Einige winzige Unachtsamkeiten sollen gar nicht erst erwähnt werden. Aber eines bleibt zu fragen: Ist mit »Suhla im Thüringer Wald« auf S. 117 Suhl oder Ruhla gemeint?

Kurt Wernicke

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Moses Mendelssohn
Gesammelte Schriften

Jubiläumsausgabe, Band 23, Dokumente II. Die frühen Mendelssohn-Biographien.
Bearbeitet von Michael Albrecht
Friedrich Frommann Verlag, Günther Holzboog, Stuttgart 1998

Hat der Rezensent des 22. Bandes, Dokumente I, noch bedauert, den Nachruf Erich Biesters auf den jüdisch-deutschen Philosophen Moses Mendelssohn vergeblich zu suchen (BM 4/96), so findet dieser Nachruf sich natürlich im Band 23, zusammen mit all den frühen Biographien, die bis zum Jahre 1827 erschienen sind. Wie Michael Albrecht in seiner Einleitung betont, kam es ihm nicht so sehr auf den Faktengehalt der Texte als vielmehr darauf an, wie das Mendelssohn-Bild von wem interpretiert wurde. Wer sich faktenreich über Mendelssohn informieren wolle, der greife ohnehin zur Biographie Alexander Altmanns, bis 1987 Herausgeber der Jubiläumsausgabe.
     Diesen Intentionen Albrechts entspricht, daß zu jedem der Verfasser biographische Notizen das Umfeld erfassen, es dem heutigen Leser also erleichtern, dessen Interpretation des Lebens von Moses Mendelssohn einzuordnen. Und genau darin liegt ein wesentlicher Reiz dieses Bandes, der allen am Leben des »deutschen Sokrates«, an der Berliner Aufklärung und der Geschichte des Judentums in Berlin Interessierten empfohlen sei. Zumal die Moses-Biographie des Aufklärers Itzik Euchel (1756–1804), 1788 hebräisch in Berlin erschienen, hier erstmals deutsch veröffentlicht wird. Besorgt hat die überaus schwierige Übersetzung dankenswerterweise der seit 1935 in Israel lebende Gelehrte Reuven Michael.

Eingeleitet wird die Sammlung mit einem Brief Friedrich Nicolais (1733–1811) an Johann Peter Uz von 1759, im Jahre 1986 von Eva J. Engel, seit 1987 Gesamtherausgeberin der Jubiläumsausgabe, veröffentlicht. Ein Brief, der, wie Albrecht bemerkt, belegt, daß »Mendelssohns Beispiel schon damals Wirkungen freisetzte, die auf die Schwierigkeiten der jüdischen Assimilation hinweisen« (S. XI). Auch Mendelssohns äußerst knapp bemessene und einzige autobiographische Notiz ist enthalten, in der er in einem Brief an Johann Jakob Spieß (1730–1814) feststellt: »Meine Lebensumstände sind von so geringer Erheblichkeit, daß ich Ihren Lesern keine sonderlich Unterhaltung davon versprechen kann; mir selbst haben sie so unwichtig geschienen, daß ich nicht das mindeste davon aufgezeichnet habe.« (S. 6/7) Es folgen der Nachruf Nicolais, nach Lessings Tod engster Freund Mendelssohns, und Johann Erich Biesters (1749–1816), veröffentlicht in der »Berlinischen Monatsschrift« vom März 1786. Biester würdigt u. a. Mendelssohns vortrefflichen deutschen Stil »in philosophischen Sachen«, seine Methodik der Literaturkritik und schreibt: »Ihm verdankt vorzüglich seine Nation, und dadurch auch ganz Deutschland und die gesammte Menschheit, einen großen Theil ihrer moralischen und intellektuellen Bildung.« (S. 25)
     Für den Leser von heute am interessantesten ist es nachzuverfolgen, was den einzelnen Verfassern am Leben von Moses Mendelssohn wichtig, aufhebens- und mitteilenswert erschien. So berichtet Simon Höchheimer (1757–1828) vor allem über die Erziehung der Mendelssohn-Kinder: »... schon in ihrem sechs oder siebenjährigen Alter ließ er sie anfangen, die Bücher des Euklides zu erlernen; er erklärte sich oft, daß die Mathematik das beste Mittel wäre, der Jugend Verstand gerad und richtig zu bilden; bei etwas reifern Jaren nahm er auch das Studium der Logik mit zur Hilfe, und so ließ er stuffenweis seine Kinder – Töchter sowol, als Söne plan-
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und zweckmäßig, wie es für jeden paßte, in allem möglichen unterrichten.« (S. 30) Besonderes Vergnügen bereitet zweifellos der Text von Karl Philipp Moritz (1756–1793). Seine Verehrung für Mendelssohn (»der mit der Fackel der Philosophie sein Jahrhundert erleuchten half«, S. 35) geht einher mit anekdotischer Erzählweise und genauer Beobachtung: »Wenn ein Gespräch ihn nicht interessirte, so sahe man es seinem Auge, und jedem seiner Gesichtszüge an, wie sehr er sich in sich selbst zurückzog – Sein Auge schien sich dann, wie mit einem Flor zu überziehen, und das Feuer seines Blicks erlosch – Sobald ihn aber ein Gegenstand der Unterredung anzog, trat auch der Geist wieder in seine Augen – Dieß wechselte in kurzer Zeit oft schnell bei ihm ab –« (S. 40)
     162 Seiten, fast ein Drittel der Ausgabe, gehören zu Recht Itzik Euchels Beschreibung von Moses Mendelssohns Lebenswerk und einem Nachwort von Reuven Michael. »Euchel wollte«, wie Albrecht bemerkt, »Talmud-Schüler, die nur Hebräisch verstanden, dazu bringen, denselben Weg einzuschlagen, den Mendelssohn und er selbst gegangen waren, den Weg zur modernen Bildung und zur bewußten Einordnung in die Umwelt aufgrund eines erneuerten jüdischen Selbstverständnisses.« (S. XV) Um verstanden zu werden, hat Euchel, ein Kant-Schüler, Mendelssohns deutsche Texte in die Gedanken- und Empfindungswelt seiner Adressaten übertragen. Das eben war die Schwierigkeit, vor der Reuven Michael bei der »Rückübersetzung« Mendelssohnscher Texte stand. Er bekennt: »Der Übersetzer von Euchels Buch stand vor dem Dilemma, auf der einen Seite die Patina seiner antiken Sprache soweit wie möglich zu bewahren, andererseits aber ein für den heutigen Leser verständliches Deutsch zu schreiben.« (S. 263) Beides ist ihm glänzend gelungen.
     Mit Band 23 rundet sich die Jubiläumsausgabe, deren erster Band schon 1929 vorlag und deren
Schicksal mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten besiegelt schien. Wie von Gesamtherausgeberin Eva J. Engel, der von dieser Stelle alle guten Wünsche zum 80. Geburtstag am 18. August übermittelt sein sollen, zu erfahren ist, folgen noch: der Nachtragsband 21 in zwei Teilen (Teil 1 mit etwa 200 bisher unveröffentlichten und 40 bisher verschollen geglaubten Briefen; Teil 2 Philosophica Inedita, Mendelssohn als Geschäftsmann, Mathematica), Band 25 (Verzeichnis der Büchersammlung Mendelssohns), Band 26 (Register deutscher Schriften) und Band 27 (Register hebräischer Schriften).
     Ganz ungetrübt allerdings ist die Freude über den nun vorliegenden Band nicht. Wir haben es Eva J. Engel zu verdanken, daß der Hinweis eines Korrektors des Brockhaus-Verlages Mitte des 19. Jahrhunderts, wonach das Geburtsdatum Mendelssohns falsch angegeben wird, wieder zur Kenntnis genommen wird. (BM 1/95) Moses Mendelssohn wurde nicht am 6. 9. 1729, wie noch in vielen Lexika vermerkt, sondern am 17. 8. 1728 geboren, wie z. B. im 20bändigen dtv-Lexikon nachzulesen. Kein Wort davon im vorliegenden Band. In Albrechts einleitendem Text, in dem er unter anderem nachweist, wer von wem falsch abgeschrieben hat, findet sich sogar wörtlich: »Als Geburtsjahr wird richtig 1729 angegeben.« (S. XVII!) Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich, möcht man da auf gut berlinisch hinzufügen.

Jutta Arnold

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Gummi Goldleisten Großdrehmaschinen

Ein Beitrag zur Industriegeschichte in Berlin-Weißensee
Hrsg. Bezirksamt Weißensee und AG Verlag, Berlin 1999

Die Publikation ist zu einer Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee erschienen, die von April bis 7. November 1999 gezeigt wird und dasselbe Anliegen hat: einen Beitrag zur Industriegeschichte des Berliner Bezirks zu leisten. Es ist ein durchaus gelungener Beitrag, der ein Stück Heimatgeschichte aufbereitet und bewahren hilft.
     Bezirksbürgermeister Gert Schilling stellt in einem Geleitwort fest, Weißensee habe in den zurück

liegenden 125 Jahren alle Höhen und Tiefen der Veränderung industrieller Substanz durchlebt und verweist auf »die Leistungen der Väter und Großväter« in dieser Zeit. Ebendies wird auf den rund 100 Seiten des Bandes mit vielfältig illustrierten Beiträgen anschaulich gezeigt. Und es wird deutlich, ohne daß die Autoren es mit vielen Worten darzulegen versuchen: In diesen 125 Jahren wurden die Leistungen ganzer Generationen, sichtbar an und in Industriebetrieben, durch zwei Kriege ganz oder zum Teil zerstört. So ist diese Dokumentation auch eine Warnung, die Ergebnisse menschlicher Arbeit zu bewahren statt aufs Spiel zu setzen.
     Selbst der eingesessene Weißenseer wird bereits aus dem einleitenden Kapitel viel Neues erfahren. Geschildert werden in Umrissen drei Abschnitte der Weißenseer Geschichte, die Jahre 1872–1920 und 1920–1945 sowie 1945–1998. Die ursprünglich selbständige Gemeinde Weißensee, die um die Jahrhundertwende
 

 
Die Industriebahn Berlin-Weißensee im Jahr 1908

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hartnäckig eine eigene Stadt werden wollte, ist erst am 17. Juli 1919 Teil der Stadtgemeinde Berlin geworden, als 18. Verwaltungsbezirk zusammen mit den Dörfern Malchow, Wartenberg, Falkenberg und Hohenschönhausen, das zu DDR-Zeiten wiederum selbst ein neuer Bezirk der geteilten Stadt wurde. Ein Kuriosum unter den vielen Merkwürdigkeiten des Wildwuchses in der Region Berlin: Ab 1. April 1912 führte der Ort, ohne schon Bestandteil der Stadt zu sein, bereits den postamtlichen Namen Berlin-Weißensee.
     Von jener Zeit, dem Anfang des Jahrhunderts, bis heute, dem Ende des Jahrhunderts, zeigt der Band ganz unterschiedliche Entwicklungen. Da ist erstens die Periode des Aufstiegs und der Ausbreitung der Industrie in Berlin-Weißensee, bereits untrennbarer Bestandteil der gesamten Berliner Industrieentwicklung, die allerdings in den einzelnen, sich allmählich zusammenfügenden Teilen der Stadt unterschiedlich vonstatten ging. Diese Periode endete mit der Einbeziehung in die Rüstungswirtschaft der Nazis Mitte der 30er Jahre. Dies ist keine Weißenseer Besonderheit, aber das Buch zeigt, daß die Vorbereitung auf den Krieg auch in diesem Teil Berlins von außerordentlicher ntensität war. Da ist zum anderen die Periode der Kriegswirtschaft, die – wie richtig dargestellt – schon vor 1939 einsetzte. Sie endete 1945 mit Kriegszerstörungen und industriellem Niedergang.
     Da ist drittens die Zeit des industriellen Wiederaufbaus und starker industrieller Entwicklung bis 1990 mit einer ganzen Palette von sehr unterschiedlichen Schwierigkeiten, die auf dem offenbar vorgegebenen kurzen Raum nur skizziert werden konnten. Erkennbar ist, ohne daß dies deutlich und ausführlich gesagt wird: In den vier Jahrzehnten DDR entstand eine völlig neue industrielle Struktur und Potenz, in der Wertigkeit für Weißensee wie für ganz Ost-Berlin am ehesten vergleichbar der fruchtbaren ersten Periode der Industrialisierung. Da ist
viertens die nur wenige Jahre umfassende Periode der Deindustrialisierung ab 1990.
     Sie wird, um nur drei Beispiele zu nennen, bei aller Kürze recht plastisch und differenziert dargestellt am Niedergang des Werkzeugmaschinenbaus und an der Liquidierung des Milchhofs 1996 sowie am faktischen Konkurs des VEB Stern-Radio, der schon zu DDR-Zeiten »fast ständig Rückschläge erlitten hatte«, wie treffend vermerkt wird, übrigens eine Folge sowohl von sozialistischem Mißmanagement als auch der Unterschätzung der Konsumgüterindustrie durch die DDR-Führung.
     Diese differenziertere Periodisierung erscheint einleuchtender als die in dem Band vorgenommene zeitliche Dreiteilung. Die wird der ganz unterschiedlichen Entwicklung 1945–1998 nicht gerecht, ignoriert die Zäsur 1990, die für die industrielle Situation nicht nur von Weißensee einschneidende Bedeutung hat. Die gesamte Ostberliner (und ostdeutsche) Wirtschaftsstruktur hat sich verändert und verändert sich weiter. So wird durchaus richtig angedeutet, daß sich Weißensee zu Dienstleistungen und innovativen Technologien hin bewegen wird.
     Alles in allem ein interessanter Blick in mehr als ein Jahrhundert Berliner Industriegeschichte, dargestellt an einem der kleineren Zentren, vergleicht man vor allem mit Köpenick. Die Autoren haben mit dieser historischen Dokumentation eine anerkennenswerte, sprachlich saubere und durch viele Fakten besonders wertvolle Arbeit geleistet.

Karl-Heinz Arnold

Bildquelle: Gummi, Goldleisten, Großdrehmaschinen - Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee

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