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Karl Lärmer Seidenstrümpfe und feine Spitzen Ausländer in der Stadt/ Das Edikt von Potsdam Zu den wirkungsvollsten Mitteln der Erhöhung der Wirtschaftskraft eines Landes zählte stets die gelenkte Ansiedlung von Fremden. Dies besonders dann, wenn Arbeitskräfte fehlen bzw. die Angeworbenen Fähigkeiten mitbringen, die die Wirtschaft des Einwanderungslandes benötigt.
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Zahlreiche Hausgrundstücke in Berlin, wie überall im Lande, boten ein Bild der Verwüstung. Fast ein Drittel der Häuser war unbewohnt. Da Wohnung und Werkstatt oft identisch waren, bildete die Zerstörung von Wohnhäusern gleichzeitig den Ruin von Handwerks- und Produktionsstätten. Der Bevölkerungsverlust, verursacht durch direkte Kriegseinwirkung, durch Hunger und Seuchen auch in den Nachkriegsjahrzehnten, hatte darüber hinaus dazu geführt, daß handwerkliche Kenntnisse zum Teil der Vergessenheit anheim gefallen waren und neue Gewerbe, wie sie beispielsweise in Frankreich florierten, sich nicht herausgebildet hatten. Diese Situation erklärt, warum der Große Kurfürst, in Konkurrenz mit anderen Staaten, mit großzügigen Regelungen um die Zuwanderung von Hugenotten warb. So wurde den Glaubensflüchtlingen u. a. die freie Religionsausübung mit eigenen Predigern und in ihrer Muttersprache zuerkannt, den Adeligen unter ihnen selbst die Wahrnehmung von Hofämtern in Aussicht gestellt. Die Refugiés unterstanden einer eigenen Gerichtsbarkeit, sie waren nicht gehalten, die deutsche Sprache zu erlernen.
Den Hauptteil des Edikts bildeten jedoch Regelungen, die darauf abzielten, die Arbeitskraft der Fremden rasch der Wirtschaft nutzbar zu machen.1) Die zollfreie Einfuhr ihrer Habe wurde ihnen ebenso erlaubt wie die freie Wahl des Wohnsitzes. Sie erhielten in Berlin und Brandenburg verlassene Häuser | ||
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Titelseite des Potsdamer Edikts | |||
und zu deren Instandsetzung kostenlos Baustoffe. Lebten sie in Mietwohnungen, so konnten sie dies vier Jahre kostenfrei tun. Dazu kamen über Jahre währende Befreiung von Steuerzahlungen, die Militärfreiheit, die Freistellung von Einquartierungen, die Befreiung vom Zunftzwang.2) Beim Erwerb des Bürgerrechtes oder des Meisterrechtes wurde auf die Erhebung der dafür üblichen Gebühren verzichtet. Ließen sich Kalvinisten auf sogenannten wüsten Plätzen |
oder in wüsten Orten nieder, so gingen Grund und Boden in ihr erbliches Eigentum über. Bei der Gründung gewerblicher Betriebe wurden Kredite und Subventionen gewährt.
Mit der Aufnahme der Hugenotten verfolgte der Kurfürst natürlich auch das Ziel, mit Hilfe seiner Glaubensverwandten dem Kalvinismus im lutherischen Brandenburg eine Bastion zu schaffen und so seine eigene Machtposition gegenüber dem Adel zu stärken. | ||
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Titelblatt eines Patents von Kurfürst Friedrich III. vom 4. Juli 1696 über die Verlängerung der Privilegien und Freiheiten des Potsdamer Edikts um fünf Jahre
Er verband geschickt humanitäre Hilfe, kirchliche und machtpolitische Interessen mit ökonomischen Zweckmäßigkeiten.
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mit den Bedingungen vergleicht, unter denen anderen Glaubensflüchtlingen Asyl gewährt wurde. 1670 hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm in Österreich verfolgten Untertanen jüdischen Glaubens die Ansiedlung in Berlin erlaubt. Erste Voraussetzung für die Asylgewährung war der Nachweis eines Familienvermögens von mindestens 10 000 Talern.3) Zum anderen wurde ihre Zahl und zunächst auch die Aufenthaltsdauer begrenzt.4) Außerdem durften sie nur in Alt-Berlin leben.5) Selbst die Religionsausübung wurde erschwert, denn es dauerte Jahre, bis sie eine Synagoge bauen durften.6)
Die Privilegien, die der Kurfürst den Refugiés zugestand, führten dazu, daß sich von den etwa 30 000 kalvinistischen Flüchtlingen, die in deutsche Staaten kamen, rund 20 000 in 60 brandenburgischen Städten und Dörfern niederließen. Ihr bevorzugtes Ziel war Berlin. Lebten 1685 500 Hugenotten in der Stadt, so waren es fünf Jahre später schon 3 000 und im Jahre 1700 5 400. Das heißt, fast 20 Prozent der Einwohner waren Fremde. Französisch wurde zur zweiten Umgangssprache.7) Natürlich verursachte die Ansiedlung der Refugiés einen hohen finanziellen Aufwand, denn die Mehrzahl der ihnen gewährten Vergünstigungen kostete direkt oder | ||
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indirekt bares Geld. Doch mit dem schrittweisen Abbau ihrer Privilegien, man denke z. B. an die Steuerfreiheit, begannen die aufgebrachten Steuern die Aufwendungen zu übertreffen, stiegen die Hugenotten doch rasch zur wirtschaftlich aktivsten Bevölkerungsgruppe auf.8) Dennoch oder gerade deshalb begegneten Einheimische diesen Fremden, die sich in Sprache, Religion und Mentalität deutlich von ihnen unterschieden, | Zuwanderern zeitweilig wirtschaftliche Vorrechte, derer z. B. die Berliner Handwerker nicht teilhaftig wurden. Zum anderen handelte es sich bei den Refugiés zu beachtlichen Teilen um spezialisierte Fachkräfte, die das in den Zünften behäbig dahinarbeitende Berliner Handwerk durch Konkurrenz mit hochwertigen Erzeugnissen aufschreckte. Bestand vor dem Kommen der Hugenotten ein relativer Mangel an gewerblichen | ||||||
mit Distanz, wurden die Zugewanderten in eine gewisse Isolierung gedrängt. Dazu trug bei, daß besonders die erste Generation der Neuankömmlinge es vorzog, in den entstehenden französischen Kolonien zu leben, zu arbeiten und ihren heimatlichen Lebensstil zu pflegen. Erst die zweite und dritte Generation der Refugiés wurde in der Stadt heimisch. Dafür hatte das 1709 erlassene |
Französische Friedrichstadtkirche, |
Produzenten, so begann sich nun besonders im Textilgewerbe ein Überangebot herauszuschälen.
Um 1700 erreichte der hugenottische Anteil an der Gesamteinwohnerzahl Berlins mit 18 Prozent seinen Höhepunkt.9) 1698 lebten 12 Prozent der Refugiés in Alt-Berlin, 29 Prozent in Cölln, 13 Prozent in Friedrichswerder, 33 Prozent in der Dorotheenstadt | |||||
Naturalisierungsedikt, das den Hugenotten volle staatsbürgerliche Rechte und Pflichten brachte, eine wesentliche Basis geschaffen.
Die ablehnende Haltung von Berlinern gegenüber den Kalvinisten hatte aber vor allem handfeste ökonomische Gründe, denn das Edikt von Potsdam bescherte den | und 13 Prozent in der Friedrichstadt.10) Der Zuzug der Kalvinisten bewirkte einen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, denn mit ihnen kamen 46 neue Berufe nach Berlin- Brandenburg bzw. wurden verschwundene Professionen zu neuem Leben erweckt.11) An der Wende vom 17. zum | ||||||
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18. Jahrhundert waren 75 Prozent der Glaubensflüchtlinge als Gewerbetreibende einschließlich der Händler in Berlin tätig. Der verbleibende Teil stand im Dienst der Verwaltung,
Titelseite des Naturalisationsedikts von 1709 |
41 Schneider, je 20 Tischler und Posamentierer, 25 Mediziner, 10 Apotheker und 100 Händler.13) Wirtschaftlich bedeutsamer und zukunftsträchtiger war jedoch, daß mit den Hugenotten eine ganze Reihe von neuen Erzeugnissen und die damit verbundenen Berufsspezialisierungen nach Berlin kamen. Dazu zählten z. B. die feinere Wollbereitung, die Wollkämmerei, die Produktion von feinen Zeugen, von Seidenwaren, Bändern, aber auch die Gold- und Silberdrahtzieherei, die Edelmetalldrahtstickerei sowie Ziselierungen, Emaillierarbeiten, feine Metallarbeiten, Bijouterien, Galanteriewaren, Taschenuhren.14) Die Refugiés leisteten überall dort, wo sie tätig waren, eine vorzügliche Arbeit. Darauf weist nicht zuletzt ein Befehl des Kurfürsten Friedrich Wilhelm hin, der die Berliner Handwerker aufforderte, in hugenottischen Betrieben zu arbeiten und den Zugewanderten ihre Kunstfertigkeiten abzusehen.15)
Das Hauptbetätigungsfeld der Kalvinisten bildete die Textilbranche, die das wichtigste Gewerbe in der Stadt war. Lag um 1700 der Anteil der im Textilgewerbe Tätigen an der Gesamtzahl der gewerblichen Produzenten bei 24 Prozent, so betrug der Anteil der Refugiés an den in der Textilbranche Arbeitenden 27 Prozent.16) Die Überlegenheit der Hugenotten über Teile der einheimischen Textilproduzenten beruhte vor allem darauf, daß sie mit der Herstellung textiler Erzeugnisse vertraut | ||
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waren, die man in Berlin bestenfalls als Importgut kannte. So vermochten die Refugiés eben nicht nur grobe, sondern in Form z. B. von Etamin und Serge auch feine Tuche zu weben. Besonders verdient machten sich die Glaubensflüchtlinge bei der Begründung der Seiden- und Samtproduktion. Bereits 1689 entstand die erste hugenottische Seidenmanufaktur in Berlin. Bald war man in der Lage, die kostbarsten Seidenstoffe bis hin zu Feinseiden, Seidenstrümpfen und Seiden- |
Knöpfe, Hüte, Handschuhe, von Erzeugnissen also, die besonders vom Adel, der sich nach der französischen Mode zu kleiden pflegte, gefragt waren.
Auch die Seidenraupenzucht geht auf hugenottische Initiativen zurück, denn schon unter König Friedrich I. (16571713, Kurfürst ab 1688, König ab 1701) begannen sie, Maulbeerplantagen anzulegen und die Seidenraupenzucht zu entwickeln. Die quantitative und qualitative Verbesserung | ||||
handschuhen herzustellen. Zum anderen begründeten die Hugenotten das textile Kunstgewerbe in der Stadt. Sie waren Meister bei der Herstellung von Gobelins, Wandteppichen und Hautelisses, einer Art gewebter Tapeten. Analoges gilt für die Produktion von modischem Zubehör wie | |||||
Konstruktionszeichnung eines Strumpfwirkerstuhls, Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert | |||||
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der Textilproduktion war nicht zuletzt von der Farbgestaltung der Erzeugnisse abhängig. Wieder waren es Refugiés, mit deren Hilfe es seit 1688 in Brandenburg gelang, aus Waid einen blauen Farbstoff zu gewinnen und 1709 das Krapprot der Färberei nutzbar zu machen.
Bildete die fachliche Qualifikation der Hugenotten eine Säule des Fortschritts in der Textilproduktion, so war die durch sie forcierte Entwicklung des Manufakturwesens eine zweite. Manufakturen faßten unter einheitlicher Leitung stehende Handwerker des gleichen oder auch verschiedener Berufe zusammen und organisierten deren arbeitsteiliges Zusammenwirken bei der Herstellung eines Endprodukts. Diese Organisationsform der Produktion führte zu einer nachhaltigen Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Derartige Manufakturen in Frankreich längst verbreitet entstanden nunmehr verstärkt in Berlin und keineswegs nur in der Textilbranche, sondern z. B. auch bei der Seifenproduktion und im metallverarbeitenden Gewerbe. Der technisch wertvollste Beitrag, den die Hugenotten für die Entwicklung der Textilproduktion leisteten, war wohl die Einführung des in Brandenburg bis dahin kaum bekannten Strumpfwirkerstuhles. Während in Handarbeit pro Minute etwa 100 Maschen geknüpft werden konnten, erbrachte dieser Stuhl in der gleichen Zeiteinheit 1 0001 500 Maschen.17) Der Wirkstuhl war 1687, in |
Einzelteile zerlegt, von Refugiés ins Land gebracht und zunächst nur von ihnen nachgebaut worden. Mit seiner Hilfe konnten keineswegs nur Wollstrümpfe mechanisch hergestellt werden, sondern u. a. Hosen, Röcke, Hausschuhe, Kopfbedeckungen und seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch Seidenstrümpfe und feine Spitzen.18)
Die Herrschenden hatten den Wert dieser Technik bald erkannt. Kurfürst Friedrich III. verbot 1694 den Export von Strumpfwirkerstühlen, weil sonst »dergleichen Instrumente in benachbarten Ländern gemein würden«.19) Mitte des zweiten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts wurde es z. B. einem hugenottischen Seidenmanufakturisten aus Berlin noch erlaubt, Preußen mit seinen Arbeitskräften zu verlassen, seine Strumpfwirkerstühle mußten allerdings im Lande bleiben.20) Eine solche Praxis war allerdings letztlich wenig geeignet, die Verbreitung dieser Maschine außerhalb Preußens zu verhindern, denn die Abwanderer waren selbstverständlich in der Lage, an ihrem neuen Niederlassungsort Nachbauten anzufertigen. Unter dem Regime Friedrichs II. (17121786, König ab 1740) war dieses Problem offenbar erkannt worden, denn Gewerbetreibende, die staatliche Unterstützung erhalten hatten, bedurften nun bei Auslandsreisen einer behördlichen Genehmigung. Hugenotten wurden Auslandsreisen grundsätzlich untersagt. Illegal Ausreisenden, die man faßte, | ||
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drohte die Bestrafung als Deserteure nach dem Militärrecht. Nach dem Siebenjährigen Krieg (17561763) wurde den Richtern und Predigern der Französischen Gemeinde in Berlin sogar auferlegt, alle jene Refugiés den Behörden zu melden, die in den vorangegangenen zehn Jahren Preußen verlassen hatten.21)
Gewiß wurde dadurch die Abwanderung von Hugenotten erschwert, aber gleichzeitig der Technologietransfer besonders aus den technisch-ökonomisch fortgeschritteneren Ländern Westeuropas nach Preußen behindert. Eine Bevölkerungsgruppe, die unter Kurfürst Friedrich Wilhelm aus guten Gründen bevorrechtet worden war, sank unter Friedrich dem Großen zu einer partiell unterprivilegierten Schicht ab. Quellen:
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5 Ebenda
6 Gottfried Bregulla, a. a. O., S. 11 7 Ebenda, S. 28 8 Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin/ New York 1984, S. 15 9 Gottfried Bregulla, a. a. O., S. 66 10 Ebenda, S. 53 11 Ebenda, S. 229 12 Ebenda, S. 228 13 Wolfgang Ribbe, a. a. O., S. 359 14 Ebenda 15 Wilhelm Treue, a. a. O., S. 45 16 Ebenda, S. 76 17 Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. I, Von den Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolution, Berlin 1957, S. 273 18 Josef Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2. Band, Die Neuzeit, Berlin 1954, S. 173 19 Gottfried Bregulla, a. a. O., S. 243 20 Ebenda 21 Ebenda, S. 81 Bildquelle: Archiv Autor | ||
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