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Eberhard Fromm
Menschen gestaltet durch das Beispiel

Ernst Reuter

Unter den Berliner Oberbürgermeistern bzw. Regierenden Bürgermeistern gibt es wenige, die über ihren kommunalpolitischen Auftrag hinaus mit gestalterischen Ideen und theoretischem Engagement auf ihre Zeit wirkten. Zumeist war ihre Zeit ausgefüllt mit der Führung einer modernen Großstadt, zu der sich Berlin seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Auch von Ernst Reuter wurde alles abverlangt, stand er doch in einer komplizierten Situation einer gespaltenen Stadt an der Spitze Berlins. Und doch gelang es ihm, in seinem Handeln und Denken keine enge Sicht allein auf Berlin zuzulassen. Berlin stand für ihn stets für etwas Größeres, für die Freiheit des Menschen und seiner Gesellschaft, wie er sie verstand.

Ein widerspruchsvoller Lebensweg

Ernst Reuter gehört einer deutschen Generation an, die aktiv oder passiv an dramatischen Wechseln der Geschichte beteiligt war, die jähe Wendungen in Deutschland

verarbeiten mußte. Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum NS-Regime und den Anfängen einer neuen deutschen Demokratie reichte das politische Wechselbad; revolutionäre Umbrüche, zwei Weltkriege mit katastrophalen Niederlagen, Hoch-Zeiten der Wissenschaften und Kultur, aber auch der Absturz in die Barbarei wurden – mehr oder weniger bewußt – durchlebt. Allein dieser Generation anzugehören, bedeutete also bereits eine individuelle Herausforderung.
     Doch bei Ernst Reuter potenzierten sich die Widersprüche durch sein frühzeitiges Engagement noch um ein Vielfaches. Am 29. Juli 1889 in Apenrade (Schleswig, heute dänisch) geboren, verlebte er seine Kindheit und Jugend in Leer in Ostfriesland, wohin sein Vater, Kapitän von Beruf, an die Seemannsschule versetzt worden war. Später wird Ernst Reuter zeitweilig den Parteinamen Friesland führen – eine Erinnerung an seine norddeutsche Heimat.
     Seit 1907 studierte er in Marburg, wo er u. a. Vorlesungen bei Paul Natorp (1854–1924) und Hermann Cohen (1842–1918) hörte, und in München, wo der Nationalökonom Lujo Brentano (1844–1931), ein sogenannter #187;Kathedersozialist«, zu seinen Lehrern gehörte. Hier wurde er auf die Schriften Eduard Bernsteins (1850–1932) aufmerksam und schloß sich sozialdemokratischen Positionen an. 1912 legte er das Examen für das höhere Lehramt ab. Nachdem er eine Stellung als
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Hauslehrer in Bielefeld bald wieder wegen seiner politischen Ansichten verloren hatte, mußte er sich mit Hilfsarbeiten für die SPD durchschlagen. Gleichzeitig ging es ihm darum, seine Eltern von der Ehrlichkeit und Notwendigkeit seiner Haltung zu überzeugen. »Ich kann nicht dafür, daß ich Sozialist bin, das ist eine Überzeugung, die sich in mir in langer und nicht leichter Arbeit gefestigt hat und um die ich die schwersten und heftigsten Kämpfe durchgefochten habe«, schrieb er in einem Brief.
     1913 ging er nach Berlin, um sich ganz der Partei zur Verfügung zu stellen. Allerdings dauerte es einige Zeit, bis er vor allem als Redner in der Bildungsarbeit tätig werden konnte. Und auch mit der Stadt selbst hatte er anfänglich Schwierigkeiten. »Berlin selbst ist mir höchst unsympathisch«, schrieb er 1913 an seine Eltern. »Staub und entsetzlich viel Menschen, die alle rennen als ob die Minute 10 Mark kostet.« Wenige Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges schloß er sich dem im November 1914 gegründeten »Bund Neues Vaterland« an, in dem er die Geschäftsführung übernahm. In dem Bund ging es um die Gestaltung eines zukünftigen Europas und eine Auseinandersetzung mit den annexionistischen deutschen Kriegszielen. Im Bund versammelten sich Persönlichkeiten wie Albert Einstein (1879–1955), der Historiker Hans Delbrück (1848–1929), der Soziologe Leopold von Wiese (1876–1969) und Lujo Brentano.

Ernst Reuter  

Im März 1915 wurde Reuter eingezogen, kam 1916 zuerst an die West- und dann an die Ostfront und geriet schon im August verwundet – Ursache für seine spätere Gehbehinderung – in russische Gefangenschaft. Reuter nutzte die Zeit zum Erlernen der russischen Sprache und engagierte sich im Gefangenenlager politisch. Er wurde in einen Zirkel von Kriegsgefangenen einbezogen, der unter der Leitung des Bolschewiken Karl Radek (1885–1939) in Petrograd zusammenkam. Dazu gehörten auch der Ungar Bela

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Kun (1886–1939) und der Kroate Josep Broz, später bekannt als Tito (1892–1980). Im Frühjahr 1918 schickte man Reuter als politischen Leiter in das »Wolgakommissariat für deutsche Angelegenheiten« zu den Wolgadeutschen. Dort entstand unter seiner Leitung ein autonomes deutsches Gebiet, das bis zu seiner Zerschlagung im Zweiten Weltkrieg durch Stalin existierte.
     Ernst Reuter, der durch seine Arbeit persönlichen Kontakt mit Lenin und Stalin hatte, kehrte nach Ausbruch der Novemberrevolution in Deutschland sofort in die Heimat zurück. Weihnachten 1918 war er wieder in Berlin, wurde Mitglied der am Jahresende gegründeten KPD und bald darauf zur politischen Arbeit nach Schlesien geschickt. Hier wurde er schon im April verhaftet und erhielt eine Gefängnisstrafe. Erst im Oktober kam er wieder nach Berlin. Nach der Vereinigung der KPD mit einem Teil der USPD 1920 wurde er Bezirkssekretär von Berlin- Brandenburg. Seit 1921 gehörte er der Berliner Stadtverordnetenversammlung an. Im August 1921 wählte man ihn zum Generalsekretär der KPD. In einem »Brief an die deutschen Kommunisten« vom August 1921 hatte Lenin Reuter noch den »linken Friesland« genannt. Doch wegen ständiger Differenzen mit der Moskauer Zentrale der Komintern und ihren Repräsentanten in Deutschland wurde er schon Ende Dezember wieder als Generalsekretär abgesetzt und im Januar 1922 aus der Partei usgeschlossen. Reuter
schloß sich noch im gleichen Jahr der USPD an und machte dann im Herbst auch die Vereingung mit der SPD mit.
     1920 hatte Ernst Reuter Lotte Scholz geheiratet. Mit den beiden Kindern Hella und Gerd wohnte er in Köpenick. 1925 zerbrach die Ehe, und Reuter heiratete Hanna Kleinert. Aus dieser zweiten Ehe stammt der 1928 geborene Edzard, der 1998 Berliner Ehrenbürger geworden ist (BM 1/99). Seinen Unterhalt verdiente Ernst Reuter in diesen Jahren als Redakteur bei der USPD-Zeitung »Freiheit« bzw. beim sozialdemokratischen #187;Vorwärts«.
     Immer offensichtlicher wurde sein Interesse an kommunalpolitischen Fragen. 1926 wählte man ihn zum Berliner Stadtrat für Verkehrswesen. Er engagierte sich für den Berliner Einheitstarif und wurde nach ihrer Gründung im Dezember 1928 Aufsichtsratsvorsitzender der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG). In dieser Zeit wandte sich Reuter auch Problemen der Städteplanung zu. 1931 verließ er Berlin und wirkte bis 1933 als Oberbürgermeister von Magdeburg. 1932 erhielt er einen Sitz im Reichstag.
     Im Juni 1933 verhaftet, kam er ins KZ Lichtenburg, wo zu seinen Leidensgenossen Friedrich Ebert (1894–1979), Sohn des früheren Reichspräsidenten und nach 1948 Oberbürgermeister von Ost-Berlin, der Berliner SPD-Vorsitzende Franz Künstler (1888–1942) und der Gewerkschaftsführer Wilhelm Leuschner (1890–1944) zählten. Nach seiner
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Entlassung im Januar 1934 wurde er im Juni erneut ins KZ eingeliefert. Wieder entlassen, entschloß er sich Anfang 1935 zur Emigration und ging über London nach Ankara. Hier arbeitete er im Verkehrsministerium und hielt Vorlesungen an der Verwaltungshochschule. Er publizierte die Ergebnisse seiner kommunalpolitischen Überlegungen in einer Reihe von Büchern, die seit 1940 in der Türkei erschienen.
     Im Spätherbst 1946 kehrte Ernst Reuter über Neapel, Marseille, Paris, Aachen und Hannover nach Berlin zurück. Bereits am 5. Dezember wurde er in sein altes Amt als Stadtrat für Verkehrswesen gewählt. Mit großem Kraftaufwand setzte sich Reuter für die zerstörte Stadt ein. Zugleich engagierte er sich öffentlich in den Auseinandersetzungen der Zeit, vor allem im einsetzenden Kalten Krieg zwischen den ehemaligen Verbündeten, den Westalliierten und der Sowjetunion.
     Am 24. Juni 1947 wählte die Berliner Stadtverordnetenversammlung Ernst Reuter zum Oberbürgermeister. Wegen des Vetos der sowjetischen Seite konnte er das Amt nicht ausüben. Sarkastisch ließ er sich auf seine Visitenkarte den Satz drucken: »Der gewählte, aber nicht bestätigte Oberbürgermeister von Berlin.« Erst mit der Wahl im Dezember 1948 wurde Reuter tatsächlicher Oberbürgermeister, nun aber nur noch für den Westteil der Stadt, während im Ostteil Friedrich Ebert von der SED die Geschäfte führte. Der Wiederaufbau der Stadt, die Wiederbe-
lebung der Wirtschaft, vor allem aber der Kampf gegen die sowjetische Blockade und die Sorge um den Erhalt eines freien Berlins bestimmten das Wirken Reuters in diesen Jahren. Im Dezember 1947 schrieb er an seine langjährige britische Freundin Elisabeth Howard: »Berlin ist ein viel zu wichtiger Posten, als daß nicht um ihn ein neuer heißer Kampf entbrennen wird, und, ob wir wollen oder nicht, wir werden mitten in ihm drinstehen.« Er mobilisierte alle Kräfte gegen die sowjetischen Versuche, West-Berlin in die DDR zu vereinnahmen oder zumindest zu neutralisieren, aber auch gegen westliche Absichten, den Zankapfel West-Berlin fallenzulassen. Geradezu beschwörend klangen seine Worte auf der berühmten Kundgebung vom 9. September 1948: »Uns kann man nicht eintauschen. Uns kann man nicht verhandeln, und uns kann man auch nicht verkaufen ... Ihr Völker der Welt! Ihr Völker in Amerika, in England, Frankreich und Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß Ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt.«
     Als Ernst Reuter am 29. September 1953 in Berlin starb, gezeichnet von einer aufreibenden, ruhelosen Tätigkeit, da konnte es wohl keine treffendere Charakteristik des Lebens und Wirkens dieses Mannes geben als die Worte des Bundespräsidenten Theodor Heuss, der in seiner Trauerrede Dank sagte für die Leistung dieses Lebens: »Das geschah in einem großen noblen Stil, mit den eigenen
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Kräften wenig haushälterisch; aber es hat Geschichte gestaltet, indem es Menschen gestaltet hat durch das Beispiel, durch den Mut, durch jene so eigentümlichen Begegnungen im Wesen dieses Mannes, nüchterner Tatsachensinn und formende Phantasie.«

Für einen ethischen Sozialismus

Ernst Reuter hat einmal eingestanden, daß er dem Philosophen Hermann Cohen, bei dem er in Marburg Vorlesungen gehört hatte, am meisten in seiner geistigen Entwicklung verdankt. Cohen gehörte zu den namhaften Repräsentanten des Neukantianismus. Diese Richtung der Philosophie formierte sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Ruf »Zurück zu Kant« und zugleich mit dem Bemühen, erkenntnistheoretische und ethische Fragen auf neue Art zu beantworten. Cohen hatte dabei mit seiner Ethik wesentlichen Anteil an der Entstehung eines Konzepts vom »ethischen Sozialismus«. Die Betonung der moralischen Seite bei der Entwicklung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse und die Bedeutung des Gewinns der Menschen für eine solche Gesellschaft sind Aspekte, die im Denken und politischen Wirken Reuters stets eine große Rolle gespielt haben.
     Natürlich hat er auch Karl Marx, insbesondere »Das Kapital« studiert. Einen theoretischen Unfehlbarkeitsanspruch des Marxismus hat er für sich jedoch nie akzeptiert.

Seine theoretische Position zum Marxismus beschrieb er am eindeutigsten in seinem Artikel »Der widerlegte Marx« vom Januar 1924. Demgegenüber fand er sich in den Schriften von Eduard Bernstein in seinen ethisch- sozialistischen Ansichten bestätigt.
     Hermann Cohen hat Reuter aber auch mit seinen religions- philosophischen Ansichten beeinflußt. Denn Reuter, der seine kirchliche Bindung bereits als Student gelöst hatte, las doch immer wieder in einem seiner liebsten Bücher, dem »Trost der Philosophie« von Boethius (um 480–524). Es ist eines der Bücher der Geistesgeschichte, in denen der Geist über Verfall und Zusammenbruch des Dasein triumphiert. Nach Ansicht des Boethius, der antikes und christliches Denken miteinander verknüpfte, »wohnt in den Dingen, in denen Vernunft ist, auch die Freiheit des Wollens und Nichtwollens«.
     Daß Freiheit und Menschenwürde hohe Werte darstellen, für die sich die Menschen einsetzen müssen, daß die moralische Kraft eine bedeutsame Potenz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellt und daß der Einzelne wirkungsmächtig sein kann – das sind Kerngedanken Ernst Reuters, die er sich nicht nur theoretisch angeeignet hat, sondern die er durch sein eigenes Leben auch bestätigte. In seinen Artikeln und vor allem in seinen Reden spürt man dieses betont moralische Engagement mit aller Deutlichkeit.
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Denkanstöße

Hermann Cohen ... war der Mann, dessen unwahrscheinlich großartige Verschmelzung jüdischen Geistes mit antikem Gedankengut und mit christlicher Gesinnung mich als jungen Menschen so tief beeindruckt und beeinflußt hat, daß ich glaube, die Spuren dieser Gedankenwelt in jedem meiner Gedanken heute noch wiederzufinden. Er war wirklich so etwas wie eine Verkörperung von dem, was uns allen, die wir aus dem Dunkel ins Licht streben, vorschwebt. Er war die wirkliche innere Versöhnung und Aussöhnung, die wirkliche innere Verschmelzung alles dessen, was Gutes in diesen großen Kräften, die unser Volk, die unsere Welt bewegt haben, begründet liegt.
Aus Reden und Schriften, Berlin 1963, S. 136

Bei den Bedingungen, unter denen die Arbeiterbewegung heute sich entfalten kann, verliert das Bekenntnis zur revolutionären Mission der Arbeiterklasse seinen primitiven Sinn, der verständlich war, solange es absolutistische Staatsgewalten zu stürzen galt. In dem Gegensatz, der von den Bolschewiki gegen die Methoden der englischen Arbeiterbewegung ideologisch herausgearbeitet wird, gehört die deutsche Arbeiterbewegung heute, nach 1918, an die Seite der Engländer. Nur die Entfaltung der Demokratie, nur ihre volle Entwicklung, nur die volle Ausnutzung aller ihrer Möglichkeiten,

der Ausbau breiter Millionenorganisationen garantieren im geschichtlichen Entwicklungsprozeß den Sieg der Arbeiterklasse. Der Aufstieg zur Macht ist nicht mehr ein einmaliger Akt, er wird zu einem Umwälzungsprozeß, in dem Schritt für Schritt das Proletariat die Staatsgewalt anzuwenden, die Wirtschaft erst zu beeinflussen, dann zu verwalten und zu lenken lernt.
Zuerst Mai 1924 in »Die Glocke«, in: ebenda, S. 43

Was immer wir als Stadt, als Verwaltung, als Politiker im großen, im kleinen, im ganzen und im einzelnen tun, alles kann nur beherrscht sein von dem Gedanken und von der Vorstellung, daß wir das köstlichste Gut in uns erhalten: den Menschen zu pflegen, zu schützen und ihm zu helfen und die Möglichkeit zu geben, als Mensch zu leben und sich an den großen Gütern der Kultur, der Kunst und der Wissenschaft zu erfreuen; ihm das Gefühl zu geben, daß irgend etwas ihn mit größeren und höheren Mächten verbindet, daß er nicht nur ein Tier ist, das mühselig abends seine Nahrung zu sich nimmt und in seine Höhle zurückkriecht, sondern daß er ein aufrechter Mensch ist, der frei die Stirn, frei das Antlitz den Göttern entgegenträgt, und daß er fähig und gewillt ist, an allem teilzunehmen, was Gutes und Schönes in Jahrhunderten und Jahrtausenden von Menschen in allen Ländern und in allen Völkern geschaffen ist.
Rede zur Kulturpolitik in Berlin 1949, in: ebenda, S. 155 f.

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