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Gerhard Keiderling
»Mindestens
20 Jahre ...«

Der Beginn der Enttrümmerung Berlins

Die Reichshauptstadt Berlin rangierte unter den deutschen Städten, die vom Zweiten Weltkrieg am härtesten betroffen wurden. Die Gesamtlast der von der amerikanischen und britischen Luftwaffe abgeworfenen Bomben wurde mit über 45 000 Tonnen angegeben. Hinzu kamen die Verluste während der Kampfhandlungen im April/Mai 1945. Die Schadensangaben sind – weil nur geschätzt – in der Literatur uneinheitlich. Das Statistische Jahrbuch Deutscher Gemeinden 1949 nannte eine Trümmermenge von 55 Millionen Kubikmetern, das waren 12,7 Kubikmeter je Einwohner. Spätere Schätzungen bewegten sich zwischen 75 und 87 Millionen Kubikmetern. Das war mehr als ein Siebentel der in ganz Deutschland nach Kriegsende vorgefundenen 500 Millionen Kubikmeter Schuttmassen. Um sich diese riesige Menge vorzustellen, gebrauchten die Statistiker gern Bilder. So hätten 75 Millionen Kubikmeter ausgereicht, einen 35 Meter breiten und 5 Meter hohen Damm von Berlin bis ins Ruhrgebiet zu bauen, oder 87 Millionen Kubikmeter entsprächen einem

Zylinder in der Höhe des Funkturmes (138 m) mit 2 Kilometer Durchmesser.
     Insgesamt waren über 28,5 Quadratkilometer des Stadtgebietes zerstört worden. Eine Zone der Vernichtung reichte von Lichtenberg im Osten über Stadtmitte bis Charlottenburg und Wilmersdorf im Westen. In den Innenbezirken Mitte, Tiergarten und Kreuzberg schien alles Leben für lange Zeit unter Schuttbergen begraben. Angrenzende Verwaltungsbezirke, besonders mit Industriestandorten, hatten ebenfalls schwer gelitten. Demgegenüber wiesen die ländlichen Randbezirke geringe Zerstörungen auf.
     Das Ausmaß der Kriegsschäden an Gebäuden schockierte selbst die Fachleute, als sie im Sommer 1945 eine Bestandsaufnahme vornahmen und erste Überlegungen über Enttrümmerung und Wiederaufbau anstellten. Der Experte Dr.-Ing. Runge machte in der »Berliner Zeitung« vom 3. Juli 1945 folgende Rechnung auf:
     Man kann annehmen, daß mit jeder zerstörten Wohnung 40 Kubikmeter Schutt anfallen. Rechnet man in Groß-Berlin nur mit 800 000 zerstörten Wohnungen (wobei alle Industrie- und Geschäftshäuser sowie alle Verwaltungs- und öffentliche Gebäude unbeachtet bleiben), dann liegen im Stadtgebiet mindestens 30–35 Millionen Kubikmeter Schutt ... Der Abtransport würde mindestens 10 Millionen Lkw-Fuhren von je 5 Tonnen Ladefähigkeit oder mindestens 3 Millionen Eisenbahnwaggons von je 10 Tonnen Fassungsvermögen oder 60 000
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Eisenbahnzüge von je 50 Waggons erfordern. Würde man täglich 10 Züge von je 50 Waggons mit Schutt abfahren, dann brauchte man mindestens 16 Jahre, bis der Schutt fortgeschafft wäre. Und dann käme noch der Schutt aus den beschädigten Wohnungen sowie aus den beschädigten und zerstörten gewerblichen und öffentlichen Bauten hinzu.
     Der Magistrat schätzte im Januar 1946 die Kosten für die Enttrümmerung auf etwa 1,45 Milliarden RM. Für die Bewältigung dieser Aufgabe wurde ein Zeitraum von mindestens 20 bis 25 Jahren einkalkuliert. Runge nannte im Sachverständigenausschuß des Magistrats im Februar 1946 sogar eine »Zeitspanne von 75 Jahren«,
Plätzen das Haupttiefbauamt übernahm. Diese ressortmäßige Zuständigkeit galt auch für die zwanzig Verwaltungsbezirke.
     Die Enttrümmerung umfaßte vier Aufgabenbereiche: Einsatz von Arbeitskräften, Bereitstellung von Räumtechnik, Trümmerverwertung und Verbringung der Schuttmassen. Jede Aufgabe für sich genommen erforderte einen hohen Aufwand an Organisation, Mitteln und Kosten.
     Was die Arbeitskräfte anging, so standen zunächst viele ungelernte, für technisch schwierige Räumarbeiten auch ungeeignete Kräfte zur Verfügung. In erster Linie handelte es sich um Hilfsarbeiter, Frauen, Jugendli-
sofern der Schritt von der anfänglichen handwerksmäßigen Aufräumung zum Großmaschineneinsatz sich verzögerte.
     Die Enttrümmerung war eine kommunale Aufgabe. Ihre Leitung lag zunächst beim Hauptamt für Aufbau- Durchführung. Ab Dezember 1945 war es nur noch für die Enttrümmerung der Grundstücke zuständig, während die Enttrümmerung auf Straßen und

Das Ausmaß der Kriegsschäden in Millionen Kubikmeter in den Bezirken
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che und Arbeitsuchende, die vorerst in die Bauwirtschaft vermittelt wurden. Sie erhielten den niedrigsten Stundenlohn von 0,72 RM. Laut einem Magistratsbericht vom Februar 1946 lagen die Gründe dafür, daß noch nicht vom Tageslohn zur Akkordarbeit übergegangen werden konnte, »im unzureichenden Leistungsstand, im mangelnden Arbeitswillen, in der fehlenden Unternehmerinitiative und schließlich in der Knappheit an Maschinen«.
     Über unbezahlte Massenarbeitseinsätze konnten zeitweise zusätzliche Arbeitskräfte mobilisiert werden. So hieß es im April 1946:
     Nach den zuletzt bekannt gewordenen Mitteilungen sollen für die Enttrümmerung 30 000 Menschen eingesetzt sein. Stimmt diese Zahl, so würden die Kosten der Enttrümmerung jährlich etwa 80–90 Millionen RM betragen. Unter Beibehaltung der gegenwärtig angewandten Verfahren dürfte die Enttrümmerung etwa einen Zeitraum von 20–25 Jahren beanspruchen.
     Das Tempo der Enttrümmerung hing entscheidend vom Großeinsatz der Maschinen ab. Die Ausgangsbedingungen waren sehr ungünstig. Zu Kriegs- und Demontageverlusten kamen geringe Reparaturkapazitäten, Ersatzteilmangel und Energieprobleme (Stromsperren, Benzinmangel). Spezialmaschinen mußten erst noch entwickelt und erprobt werden. Der Enttrümmerungsexperte Runge legte im Februar 1946 folgende Expertise vor:
In Berlin werden rd. 50 Mio Kubikmeter Schutt und Trümmer vorhanden sein. Zu ihrer Beseitigung müssen z. B. alle neuzeitlichen Fördergeräte wie Gurtförderer, Schaufler, Bagger, Kleinbahnen, Großraumgüterwagen, Abraumkippen und Gleisrückmaschinen eingesetzt werden. Im Mittelpunkt des Maschinenparkes müßte eine neu zu entwickelnde Aufbereitungsmaschine stehen, welche den Schutt und die Trümmer bricht, siebt, die noch brauchbaren Steine ausliest und die nicht brauchbaren zu Schotter bricht, der dem im großen Umfang zu verwendenden Beton noch beigemischt werden muß. Ob diese Maschine noch weitere Aufgaben übernehmen müßte, kann nur ihre technische Entwicklung klären. Arbeitet man mit einem derartigen Maschinenpark in zwei Schichten, so würden für die Beseitigung der 50 Mio Kubikmeter Schutt und Trümmer weniger als 10 000 Mann 5 Jahre lang beschäftigt sein. Die Anlagekosten des Maschinenparks würden schätzungsweise 40 Mio RM betragen und die Gesamtkosten etwa 300 Mio RM erreichen.
     Das Bezirksamt Friedrichshain meldete im August 1946, der Magistrat hätte die »erste große Enttrümmerungsanlage mit großen Greifern, mechanischen Sieben und Förderbändern, die das Material gleichzeitig vorbereitet«, in Auftrag gegeben. Es würde sich um »eine Probieranlage für die Enttrümmerung im großen Maßstabe, eine Musteranlage für ganz Deutschland«, handeln. Sie sollte im Bereich Blumen und
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Markusstraße zum Einsatz kommen. Über die Realisierung dieses Projekts finden sich allerdings keine Unterlagen.
     Die Abräumung der Schuttberge startete unter handwerksmäßigen Bedingungen. Runge schilderte die Enttrümmerung seines Hauses so:
     An ihr waren beteiligt 30 % Männer, 50 % Frauen. (Gemeint ist offensichtlich ein Verhältnis 3:5, d. V.) Als Handwerkszeuge standen zur Verfügung: Einige Schubkarren, Kreuzhacken und Äxte. Das Arbeitstempo war wohl mit Rücksicht auf die schlechte Ernährung unverhältnismäßig langsam. Im übrigen wurde die Enttrümmerung wohl im wesentlichen dazu benutzt, um Brennholz für die Enttrümmerungsfirma und die beim Bau tätigen Arbeitskräfte zu gewinnen.
     Die manuelle Trümmerbeseitigung blieb auch in den Folgejahren bestimmend.
     Aber nicht nur die Beseitigung der Trümmer, auch die Gewinnung wertvollen Baumaterials aus dieser Schuttmasse war wichtig. Es ging darum, alles, was für den Wiederaufbau nützlich war, herauszusortieren: Ziegelsteine, Eisenträger, Holzbalken, Bohlen, Buntmetalle usw. Daneben dachte man über weitere Verwendungsmöglichkeiten nach. Im Hochbauamt Neukölln wurde z. B. ein Verfahren entwickelt, aus Trümmerschutt Neolithkalk und Neolithzement herzustellen, aus denen sich Bauplatten und Hohlblöcke herstellen ließen. Steinsplitt fand im Straßenbau Verwendung. Auf bezirklichen Wirtschaftsausstellungen und -messen
wurden Neuerungen gezeigt und Erfahrungen ausgetauscht. Am 12. April 1947 eröffnete Oberbürgermeister Otto Ostrowski die Ausstellung »Werte unter Trümmern«. Sie war die erste Veranstaltung nach dem Kriege auf dem Ausstellungsgelände am Funkturm.
     Ein Sonderkapitel stellte die Trümmerverbringung dar. Die Möglichkeiten einer Verschüttung vor Ort (Niveauerhöhung in Parkanlagen, Verfüllung von Senken und Wasserflächen u. ä. m.) waren sehr begrenzt. Hauptsächlich mußten die Trümmermassen aus dem innerstädtischen Bereich zu künstlichen Aufschüttungen (Trümmerberge) am Stadtrand oder ins Umland gebracht werden. Angesichts der Größe des Stadtgebietes war dieses Verfahren mit einem hohen Aufwand an Arbeitskräften, Technik und Kosten verbunden.
     Ungeachtet all dieser Schwierigkeiten stand Berlin bei der Enttrümmerung der deutschen Städte ganz vorn. Man suchte den Erfahrungsaustausch mit anderen kriegszerstörten Städten. Das Bezirksamt des schwer zerstörten Verwaltungsbezirks Friedrichshain forderte im Dezember 1945 den Rat der Stadt Dresden sogar zu einem Wettbewerb heraus. Neben dem hohen Grad der Kriegsschäden und der weiträumigen Stadtlage war es vor allem die politische Entwicklung, die den Verlauf der Enttrümmerung der gesamten Stadt beeinflußte.

Bildquelle: Archiv Autor

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