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Günter Möschner
1. März 1881:
Eröffnung des »städtischen Central- Vieh und Schlachthofes«

Daß am 1. März 1881 in einer soeben fertiggestellten städtischen Anlage die ersten, schon in den Vortagen angelieferten Schweine, Rinder, Kälber und Hammel geschlachtet und an die Fleischer verkauft wurden, stellte in vieler Hinsicht eine Neuheit dar. Zum erstenmal in der Geschichte Berlins nahmen die städtischen Behörden den Handel mit Schlachtvieh unter ihre Kontrolle. Sie hatten zugleich auf Kosten und als Eigentum der Stadt einen Großbetrieb errichtet, der über das Monopol zum Schlachten des Viehs und damit zur Versorgung der Fleischer mit einwandfreier Ware verfügte. Die Anlage erstreckte sich über ein 38,62 Hektar großes, unmittelbar an der Ringbahn gelegenes Grundstück vor dem ehemaligen Frankfurter Tor in der Feldmark Lichtenberg, das vor einigen Jahren die Aktiengesellschaft »Berliner Neustadt« erworben und nun mit beträchtlichem Gewinn an die Stadt Berlin verkauft hatte. Sie umfaßte mehrere große

Abteilungen: ein Verwaltungsgebäude für die Oberaufsicht über das Gesamtobjekt; die Bahnhofsanlage, in der auf vier Gleisen gleichzeitig entladen werden konnte, und weitere Gleise, auf denen die Waggons gereinigt wurden; ein Börsengebäude für die Viehverkäufer und -makler, in dem sich zugleich ein Polizeibüro mit Arrestlokal befand, zumal gerade im Viehhandel immer wieder unlautere Geschäfte versucht wurden; getrennte Verkaufshallen und Ställe für Rinder, Kälber, Schweine und Hammel; ein Schlachthof für Rinder, in dem gleichzeitig 135 Tiere getötet und zerlegt werden konnten, zwei Schlachthöfe für Schweine mit jeweils 56 analogen Kammern und je ein Kälber- und Hammelschlachthof; ein Seuchenhof mit einem Polizei- Schlachthaus, in dem unter Aufsicht kranke Tiere geschlachtet wurden; ein Trichinenschauamt, dessen 315 Mitarbeiter jedes Tier untersuchten; eine Fleischverkaufshalle; ein Kühlhaus. Eine besondere Abteilung bildeten die Fabrikanlagen, zu denen eine Kaldaunenwäsche, eine Talgschmelze, eine Darmschleimerei, eine Häute- Salzerei und -trocknerei und eine Albuminfabrik gehörten.
     Schon im ersten Geschäftsjahr, also 1881/82, wurden in der städtischen Anlage 126 347 Rinder, 392 895 Schweine, 111 937 Kälber und 650 060 Hammel verarbeitet. Das waren etwa 420 Rinder, 1 300 Schweine, 370 Kälber und 2 160 Hammel täglich.
     Einen ersten zentralen Schlachthof gab es
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in Berlin schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der sich in der Nähe des Heiligengeist- Hospitals befand. Als er wegen Baufälligkeit abgerissen wurde, entstanden nach 1726 drei neue Schlachthöfe als Pfahlbauten über der Spree, in die auf kürzestem Wege nun alle Abfälle gelangten. Sie wurden bis in die ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts genutzt. Königliche Verordnungen sicherten, daß nur dort geschlachtet werden durfte. Die städtischen Behörden konnten sich trotz vielfacher Vorstöße von Stadtverordneten lange Zeit nicht zur Errichtung neuer Schlachthöfe entschließen. Zunehmend mehr Schlachtmeister richteten mitten in der Stadt private Schlachthäuser ein, die zum größten Teil nicht den geringsten sanitären Ansprüchen genügten. 1881 gab es etwa 250 derartige Schlächtereien. Außerdem war 1826 ein privater Viehmarkt entstanden, der 1871 von dem Großaktionär Strousberg aufgekauft und in ein monopolartiges Unternehmen, die Viehmarkt- Aktien- Gesellschaft, umgebildet worden war. Auch hier wurden Schlachthäuser errichtet, wobei trotz aller anders lautender Beteuerungen der Gewinn weit über hygienischen Belangen stand.
     Angesichts solcher Mißstände und vor allem der Tatsache, daß in den sechziger Jahren die Trichinose zu einer echten Bedrohung geworden war, hatte die preußische Regierung am 18. März 1868 ein Gesetz – kurz meist nur Schlachtzwanggesetz
genannt – erlassen, das es den Kommunen gestattete, eigene Schlachthäuser einzurichten und danach jegliche private Schlachtung zu unterbinden. Dennoch herrschte in den Berliner Behörden lange Zeit die Auffassung vor, die Einrichtung eines kommunalen Vieh- und Schlachthofes verstoße gegen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft und der freien Konkurrenz. Die Viehmarkt- Aktien- Gesellschaft verbreitete diese Version massiv in der Presse und übte geradezu Druck auf alle Andersdenkenden aus. Erst 1876 rang sich die Mehrheit der Stadtverordneten zu dem Standpunkt durch, daß die Versorgung der Stadt mit gesundem Schlachtvieh und hygienisch einwandfrei geschlachteten Tieren gesundheitspolitisch von so großer Bedeutung ist, daß dies nicht privaten Unternehmern überlassen werden könne. Sie sandte Sachverständige nach Wien, Paris und London, um die dort schon lange existierenden Anlagen zu studieren. Das machte den Weg zur Errichtung des städtischen Central- Vieh- und Schlachthofes frei. Doch dabei kam es noch zu einem Kuriosum: Um das Schlachtzwanggesetz einführen zu können, mußte das von der Stadt gekaufte Grundstück erst in das Territorium Berlins eingemeindet werden. Und dazu bedurfte es langer und schwieriger Verhandlungen, ehe der König am 24. Juni 1878 eine entsprechende Allerhöchste Kabinetsordre erließ.
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