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neun Monaten errichtet; bereits am 19. Januar 1952 konnte die Richtkrone aufgezogen werden. Das Hochhaus hat 33 Wohnungen - jeweils vier Dreiraumwohnungen zu je 96 Quadratmetern mit Einbauküche und Abstellkammer je Etage und eine Wohnung im Erdgeschoß sowie zwei Läden. Die Architektur des stattlichen Hauses ist bemerkenswert und nicht die schlechteste, die die DDR hervorgebracht hat. Das Auffälligste an dem rechteckigen Mauerwerksbau ist seine bestechende Symmetrie: die Grundrißordnung beider Achsen (vgl. Abb.); die Anordnung von je vier Wohnungen auf jedem der acht Obergeschosse, die um ein innen liegendes Treppenhaus gruppiert sind; die Gestaltung der Außenfassaden, bei der die vier verputzten risalitartig vorspringenden Eckausbildungen die dazwischen liegenden, mit heller Meißener Keramik verblendeten Flächen einfassen und die dann im achten Obergeschoß ringsum frei hervortreten. Das Erdgeschoß ist mit Sandstein, der Sockel mit poliertem Diabas verkleidet. Ebenfalls aus poliertem Diabas sind die vier dorischen Säulen am Eingang des Hauses gefertigt. Den oberen Abschluß des Hochhauses bildet die Balustrade der Dachterrasse mit einem bekrönenden gläsernen Aufbau. Mit einigen historisierenden Detailformen lehnt sich das Gebäude an den sogenannten Berliner Klassizismus an. Das Punkthaus steht inmitten parkartiger Grünanlagen (nach Entwürfen von H. Kruse) in einer etwa gleichzeitig vor
Herbert Schwenk
Grundsteinlegung für
das »Flaggschiff«
an der Weberwiese

Am 1. September 1951 wurde der Grundstein zu einem alles andere als »gewöhnlichen« Neubau gelegt. An geschichtsträchtiger Stelle entstand das erste Wohnhochhaus im Osten Berlins: unmittelbar südlich vor dem ehemaligen Frankfurter Tor der Zoll- oder Akzisemauer, an einer Wiese, die ihren Namen den einst hier ansässigen Webern verdankt, die den Rasen als Bleiche nutzten, unweit jener Stelle am heutigen Strausberger Platz, wo sich im Mittelalter das Hochgericht befand, auf dem Todesurteile vollstreckt wurden. Die Kassette, die anläßlich der Grundsteinlegung in das Fundament eingelassen wurde, verweist auf eine weitere Seite der traditionsreichen Stätte des ehemals dichtbesiedelten Arbeiterbezirks im Berliner Osten: Sie enthält auch eine Ausgabe der KPD-Zeitung »Rote Fahne« mit einem Bericht über die große Kundgebung des Rotfrontkämpferbundes gegen den aufkommenden Faschismus vom 5. März 1925.
     Das nach Plänen des Architektenkollektivs Hermann Henselmann (1905-1995) erbaute neungeschossige Punkthaus wurde in nur


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genommenen fünfgeschossigen Bebauung der Umgebung.
     Das überstürzte Tempo, in dem das Hochhaus errichtet wurde, läßt ahnen, daß es bei der Grundsteinlegung an der Weberwiese um mehr als das übliche Ritual der drei Hammerschläge ging. Es handelte sich immerhin um den ersten »programmatischen« Bau, um das »Flaggschiff«, das dem Aufbau der künftigen Stalinallee (so hieß die Frankfurter Allee zwischen Strausberger Platz und Einmündung Proskauer Straße vom 21. Dezember 1949 bis 13. November 1961) vorangehen sollte. Nur zwei Monate nach der Grundsteinlegung für das Hochhaus an der Weberwiese verkündete im November 1951 das Zentralkomitee der SED das ab 1. Januar 1952 wirksame »Nationale Aufbauwerk«, in dessen Mittelpunkt die Errichtung der Stalinallee stand, deren »offizielle« Grundsteinlegung DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl am 3. Februar 1952 vornahm. Der Wiederaufbau der kriegszerstörten alten Magistrale des Berliner Ostens, deren Vorgänger Heer-, Post- und Handelsstraßen nach Frankfurt an der Oder waren, wurde zu einem der bedeutendsten städtebaulichen Projekte im Osten Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg. Offiziell als »erste sozialistische Straße in Deutschland« apostrophiert und als Ausdruck neuen Städtebaus, neuer Architektur und auch neuer Innenarchitektur gefeiert, stieß das Projekt im Westteil der Stadt überwiegend auf Kritik und Ableh
nung (»Zuckerbäckerstil«, »gigantischer Kaninchenstall«, »architektonischer Irrtum in Ost-Berlin«, »Prunkmonument des östlichen Staatskapitalismus«, »Via Triumphalis der Russen« usw.).
     Die Grundsteinlegung fiel in eine Zäsurphase der Ostberliner Stadtentwicklung. Am 27. Juli 1950 hatte die Regierung der DDR die »16 Grundsätze des Städtebaus« beschlossen, die ein Bekenntnis zur urbanen Einheit von Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung unter »Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur bei Beseitigung ihrer Mängel« bedeuteten. Darauf beruhten das »Aufbaugesetz« sowie die vom DDR-Ministerrat und Ostberliner Magistrat am 23. August 1950 beschlossenen »Grundsätze für die Neugestaltung Berlins«. Nachdem bereits 1949 an der Südseite der Stalinallee zwei Laubenganghäuser (nach Entwürfen von Hans Scharoun und der Arbeitsgruppe von Ludmilla Herzenstein) und 1951 anläßlich der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in nur 119 Tagen eine Sporthalle (5 100 Plätze) erbaut worden waren, entstanden die ersten Neubauten an der Weberwiese, deren Übergabe schon am 1. Mai 1952 erfolgte.
     Das Hochhaus an der Weberwiese und die anderen Bauten an der Stalinallee waren zweifellos Prestigeprojekte der SED-Führung. Es ist das erste Hochhaus in dem von der SED-Führung um Walter Ulbricht geforderten Architekturkonzept des »sozialistischen Realismus«. Projektierung und Bauge

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schehen waren straff den damaligen politischen Ambitionen, vor allem der Darstellung der gesellschaftlichen Überlegenheit der DDR gegenüber dem »Westen«, unterworfen, wobei Ulbricht persönlich mehrfach unmittelbar in die Abläufe eingriff. So wurden die ersten Entwürfe der drei Architektenkollektive um Hermann Henselmann, Hanns Hopp und Richard Paulick wegen »formalistischer Tendenzen« von der SED-Führung verworfen und die Architekten aufgefordert, rasch neue Pläne vorzulegen, die den »nationalen Traditionen« mehr Rechnung tragen und zugleich an sowjetischen Vorbildern ausgerichtet sind. Im August 1951 wählte der Magistrat von Berlin (Ost) schließlich den Henselmann-Entwurf aus. Dabei hatte sich Henselmann »am entschiedensten gegen das empfohlene Architektur konzept« gewandt. »Erst nach einem Gespräch mit dem befreundeten Bertolt Brecht legte er den zur Ausführung bestätigten Entwurf für das Hochhaus an der Weberwiese vor. Damit begann die Durchsetzung des >sozialistischen Realismus< im Berliner Städtebau.« 1)
     Die bestätigten Projekte wurden mit einem solchen Tempo realisiert, daß die Projektierung zeitweilig den Bauarbeiten hinterherhinkte. Hinzu kam, daß das gesamte Baugeschehen in kein entsprechendes stadtplanerisches Umfeld, geschweige in einen Bebauungsplan für die gesamte Hauptstadt, eingeordnet werden konnte. Schon in dieser frühen Phase des Großbaugeschehens in Berlin zeigte sich, daß die materiellen Belange gegenüber architektonisch-ästhetischen Aspekten eindeutig im Vordergrund standen. Alles in allem konnte die Stalinallee am
Ende ihre Funktion als Zentrum eines »sozialistischen Wohnbezirks« mit einem gesellschaftlichen Mittelpunkt nicht erfüllen: Die anfangs 97 Spezialgeschäfte (später 109 und ein Kaufhaus) verliehen ihr mehr den Charakter einer exklusiven Kaufstraße, ohne z. B. eine einzige typische Berliner Eckkneipe. Auch die Anlage
Grundriß Obergeschoß

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   25   Probleme/Projekte/Prozesse Grundsteinlegung Weberwiese  Voriges BlattArtikelanfang
der Stalinallee als nur zweispurige Schnellstraße spricht ebenso für eine Fehleinschätzung künftiger Verkehrsentwicklung wie die Vernachlässigung des ruhenden Verkehrs.
     Das alles vermag nicht in Abrede zu stellen, daß erstmals im Osten Berlins in kürzester Zeit in der kriegszerstörten Stadt eine
Quellen:
1 Günter Peters: Kleine Berliner Baugeschichte. Von der Stadtgründung bis zur Bundeshauptstadt, Berlin 1995, S. 237
Bildquelle: Archiv Autor
Vielzahl großer und moderner Wohnungen zu bezahlbaren Mieten entstanden war. Von den 2 115 Wohnungen der Stalinallee waren 57 Prozent Zwei-Zimmer-Wohnungen mit durchschnittlich 67 Quadratmetern und 29 Prozent Drei-Zimmer-Wohnungen mit durchschnittlich 75 Quadratmetern. Von den ersten 1 148 Wohnungen wurden ca. 60 Prozent durch Arbeiterfamilien belegt.
     Das Hochhaus an der Weberwiese und Teile der ehemaligen Stalinallee sind heute denkmalgeschützt. Sie künden - noch nach 45 Jahren - gleichermaßen von hochfliegenden politischen Ambitionen der Ulbricht-Führung wie von einem sozialen Experiment, das sich letzten Endes als unbezahlbar erwies.

Hochhaus an der Weberwiese


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/1996
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