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1900 wohnten in der Luisenstadt 300 000 Menschen - sie war der größte Berliner Stadtteil geworden. Mit der Bildung Groß-Berlins 1920 erfolgte die Aufteilung auf die neugebildeten Bezirke Kreuzberg (80 Prozent des luisenstädtischen Territoriums) und Mitte (20 Prozent). Der Name Luisenstadt verlor sich danach zunehmend aus dem kommunalen Sprachgebrauch.
     Die Spurensuche beginnt am U-Bahnhof Märkisches Museum. (1) Dieser Bahnhof der Linie U 2 ist selbst ein kleines Museum. Ohne die sonst auf Berliner U-Bahnhöfen üblichen mittleren Stützpfeiler gibt das freitragende Korbbogengewölbe der unterirdischen Station ein ganz besonderes Flair. Es finden sich hier in Form von Reliefs und Collagen Ansichten zur Berliner Stadtbaugeschichte. Die Gestaltung erfolgte durch Karl-Heinz Schäfer, Ulrich Jürke und Jo Doese 1987/88. In Höhe der Bahnhofsaufsicht ist ein farbiges Relief der Karte Berlins im 18. Jahrhundert gestaltet - das graue Dreieck im unteren Teil stellt die Luisenstadt dar.
     Am Ausgang Neue Roßstraße befand sich früher das Köpenicker Tor. Von hier aus nahm der Weg in Richtung Süden (Rixdorf, Köpenick, Mittenwalde, Dresden) seinen Anfang. Nach 1683 wurden Neue Roß- und Wallstraße zum Stadtteil Neu-Kölln am Wasser vereint.
     An der Kreuzung Neue Roß-, Annenstraße/

Spuren der Luisenstadt

Fußtouren durch Berlin

Wo heute ruhige begrünte Wohnviertel liegen, fanden sich vor 300 Jahren Gehöfte und Gärten, stand vor 100 Jahren ein typischer Berliner Kiez mit prächtigen Fassaden und tristen Hinterhäusern, Gewerbehöfen, Kaufhäusern, Theatern, Kneipen und allerlei Vergnügungsstätten.
     Mit dieser Tour durchqueren wir jenen Teil der Luisenstadt, der infolge des Zweiten Weltkrieges seinen Charakter völlig verändert hat. Der Spaziergang von ca.
     zwei Stunden führt zu jenen Spuren, die uns dennoch heute noch einiges aus der Geschichte der alten Luisenstadt verraten können.
     Die Luisenstadt gehörte zum alten Berlin. Auf einer Feldmark war eine Vorstadt mit 500 Häusern und etwa 13 000 Einwohnern entstanden. Der Name stammt aus dem Jahre 1802 und geht auf Königin Luise (1776-1810), die Frau des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. (1770-1840), zurück. Den ersten Bebauungsplan für die Luisenstadt legte Peter Joseph Lenné (1789-1866) im Jahre 1841 vor. Auf dieser Grundlage entstand als erstes Gebäude das Diakonissenkrankenhaus Bethanien. Um


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Verlauf der Fußtour

Ehemaliger Grenzverlauf
U-Bahnhof Märkisches Museum
Neue Roß-, Annenstraße/
Alte Jakobstraße
Alte Jakobstraße/Sebastianstraße
Stallschreiberstraße
Waldeck-Park
Jacobi-Kirche
Firma Aqua Butzke
Anlage des Moritzplatzes
Oranienplatz
Kottbusser Tor

Verlauf der Fußtour


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Alte Jakobstraße (2) stoßen wir auf erste Spuren der Luisenstadt. Die Straßen gehören zu den ältesten der Vorstadt. Die berühmteste, die Dresdner Straße, fiel weitgehend den Zerstörungen des letzten Krieges zum Opfer. Sie wurde wesentlich in den 60er Jahren durch das Heinrich-Heine-Viertel überbaut. Am winkeligen Verlauf der Alten und der Neuen Jakobstraße kann man den Verlauf der Bastionen V und VI der alten Festungsmauer nachvollziehen.
     Der Luisenstädtische Kirchpark an der Ecke Alte Jakob-/Sebastianstraße (3) besitzt eine wechselvolle Geschichte. 1694 wurde die von Martin Grünberg als Fachwerkbau gestaltete Sebastianskirche, eine Pfarrkirche der Vorstadt, errichtet. Nach Umbau und Erweiterung hieß sie seit 1802 Luisenstadtkirche. Auf dem Gelände wurde auch der Friedhof der Gemeinde angelegt, der 1831 geschlossen wurde. Begraben wurden hier der Komponist Friedemann Bach (1710-1784) und der für die Aufklärung streitende Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai (1733-1811). Seit 1851 befindet sich an dieser Stelle ein Park. Im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, wurde die Ruine der Luisenstadtkirche 1964 gesprengt. Geplant ist jetzt eine Parkerweiterung um die Breite des ehemaligen Grenzstreifens.
     Weiter auf der Alten Jakobstraße gehend, überqueren wir Reste der einstigen Mauer und gelangen in den Bezirk Kreuzberg. Nur geringe Überbleibsel von ihr sind noch in
der Stallschreiberstraße (4) sichtbar. Diese entstand ursprünglich als Verbindungsweg zum Kottbusser Tor. Die Straße trägt ihren Namen nach dem ersten in ihr entstandenen Gebäude, das ein kurfürstlicher Stallschreiber besaß. Hier beginnt das Otto-Suhr-Viertel. Es entstand 1956 bis 1963 als Teil des Projektes »Wiederaufbau des City-Gebietes in der Luisenstadt« und gehört zu jenen Teilen der Luisenstadt, die ihr ein neues, ein modernes Gepräge geben.
     In der Kommandantenstraße sollten wir den Gedenkstein für das Theater des Jüdischen Kulturbundes, das sich von 1935 bis 1941 hier befand, beachten. Gezwungen durch das Berufsverbot, hatten Juden in Deutschland diese Selbsthilfeorganisation mit eigenen Orchestern und Ensembles für Oper, Operette und Schauspiel gegründet. Die Nazibehörden mißbrauchten den Kulturbund zur Überwachung der jüdischen Künstler und ihres Publikums, das nur aus Juden bestehen durfte. 1941 wurde er verboten. Fast alle, die hier arbeiteten, wurden in Konzentrationslagern ermordet. Das Gebäude ist im Krieg zerstört worden, die Ruine wurde 1953 gesprengt. Heute befinden sich hier Neubauten und eine Grünfläche.
     Wir biegen nun in die Oranienstraße ein. Nach 1685 errichteten Kolonisten aus Südfrankreich hier Gärtnereien. An der Ecke Alte Jakobstraße stoßen wir auf den heutigen etwa zwei Hektar umfassenden

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Waldeckpark. (5) An dieser Stelle befand sich seit etwa 1604 ein Armenfriedhof, der ab 1717 der Petrigemeinde als Begräbnisstätte diente. Aus dieser Zeit stammt der Grabstein für den königlichen Stallmeister Ernst Ferdinand Ayrer (1774-1832). Die Stadt erwarb nach 1864 das Land und legte einen Park an. Namensgeber wurde der liberale Politiker Benedikt Franz Leo Waldeck (1802-1870), für den 1889 ein von Heinrich Walger modelliertes Denkmal enthüllt wurde. Dieser 1937 von den
Nazis - wegen der »jüdischen Versippung« Waldecks - entfernte Gedenkstein wurde nach dem Krieg wieder aufgestellt. Ebenso erhielt der Park - während des Faschismus hieß er Lobeckpark - seinen ursprünglichen Namen zurück. Rechterhand sehen wir das stattliche Gebäude der Bundesdruckerei und die ehemalige Reichsschuldenverwaltung.
     Eine weitere Spur der Luisenstadt ist in der Oranienstraße 132 zu finden - die Jacobi-Kirche. (6) Errichtet wurde sie 1844/45 im Stil altchristlicher Basiliken vom Architekten Friedrich August Stüler (1800-1865). Nach starker Beschädigung im Februar 1945 erfolgte ihr Wiederaufbau zwischen 1953 und 1957. Die Pfarrhäuser an der Südseite entstanden 1980 und 1981.
     Auf Reste gewerblicher Traditionen der Luisenstadt treffen wir im Dreh von Ritter- und Prinzenstraße. Die Firma Aqua Butzke in der Lobeckstraße (7), bekannt für ihre
Sanitärarmaturen, wurde 1873 gegründet. 1927 fusionierte man mit der Firma von Bernhard Joseph, dem Erfinder des Aqua-Hochdruckspülers. Seitdem befindet sich das Unternehmen am heutigen Standort.
     Wir kehren wieder in die Oranienstraße zurück. Im ehemaligen Haus Nr. 64 lebte mehr als 30 Jahre der Komponist und Dirigent Paul Lincke (1866-1946). Seine populären Lieder (»Das ist die Berliner Luft«) und Operetten (»Frau Luna«) haben Berliner musikalisches Colorit verbreitet.
     An ihn erinnert eine dort aufgestellte Büste. Gegenüber befindet sich der Elsnerhof, 1912 bis 1914 erbaut. Hier hatte die einstmals bekannte Druckerei und Verlagsbuchhandlung Otto Elsner ihren angestammten Sitz.
     Die Anlage des Moritzplatzes (8) geht ebenfalls auf den in preußischen Diensten stehenden Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné zurück. Vor der Kriegszerstörung befand sich hier ein markantes Zentrum der Luisenstadt. Verschwundene Zeugen dafür waren das Warenhaus Wertheim (1912/13 errichtet), das bekannte Café Nagler, das Gartenetablissement Buggenhagen (später von Aschinger übernommen), das Hotel »Deutscher Hof«, das Parodie-Theater sowie kleine Geschäfte und Kneipen. Der Krieg hinterließ nur Ruinen, und die Teilung der Stadt verbannte den ehemals belebten Platz an den Rand Westberlins. Diese politisch verordnete Bedeutungslosigkeit führte zu

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seinem heutigen baulich profillosen Charakter. Der Neubau an der Ecke Prinzenstraße beherbergt ein bekanntes Unternehmen, die Klavierfirma Bechstein. Weiter in Richtung Osten zeugen bekannte Kneipen wie »Max und Moritz« (Oranienstraße Nr. 162), das Schmale Haus (Oranienstraße Nr. 46) und das ehemalige Warenhaus Brenninckmeyer (Oranienstraße Nr. 40/41) von der Vergangenheit der Luisenstadt. Gewerbehöfe wie der Oranienhof (Oranienstraße Nr. 183) sind ein typisches Merkmal der Luisenstadt ausgangs des 19. Jahrhunderts. Sie wurden bekannt als »Kreuzberger Mischung«. Die Kombination von Wohn- und Gewerbefunktion in einem Gebäudekomplex, die auch in anderen Berliner Stadtbezirken zu finden ist, nutzte das zur Straße hin schmale, aber sich in die Tiefe erstreckende Grundstück für die Anlage mehrerer Hinterhöfe und Quergebäude. Sie existieren noch heute, wenngleich Second-Hand-Shops, Buchläden und Antiquariate, Szenekneipen und türkische Obst- und Gemüsegeschäfte die Oranienstraße und den Kiez insgesamt prägen.
     Auch der Oranienplatz (9) geht auf Lenné zurück. Hier kreuzte seinerzeit der Luisenstädtische Kanal die Oranienstraße. Nach der Zuschüttung des Kanals (1926-1928) gestaltete der Berliner Gartendirektor Erwin Barth einen imposanten Grünzug innerhalb der Kanalmauern. Gegenwärtig werden die im Bereich der ehemaligen
Mauer liegenden Teile des Grünzuges originalgetreu wiederhergestellt. Sehenswert am Oranienplatz 4-10 ist das ehemalige Warenhaus der Konsumgenossenschaft.
     Die Erbauer Max Taut und Franz Hoffmann schufen 1930 bis 1932 ein typisches Beispiel für die »Neue Sachlichkeit«.
     Wir überqueren den Oranienplatz zur Dresdner Straße. In dieser Straße blieben noch einige Spuren der Vergangenheit übrig. In der Nr. 12 finden wir einen typischen Hinterhof mit Toilettenhäuschen; im Quergebäude der Nr. 172 (heute Spielplatz) befand sich von 1910 bis 1927 die Synagoge des jüdischen Privatvereins Ahawas Reim und in Nr. 8 die 1832 in der Stallschreiberstraße gegründete Möbelfirma Olfe.
     Inzwischen sind wir am Kottbusser Tor (10) angelangt. Es entstand 1735, als man die Festungsmauer geschleift hat und die Akzisemauer, der die heutige U 1 folgt, errichtet wurde. Mit dem Abriß der Akzisemauer 1867 bis 1869 verschwand das Tor, und es entstand ein Verkehrsknotenpunkt ersten Ranges. Die bestehende Bebauung wurde im Rahmen der Kahlschlagsanierung abgerissen und ein halbkreisförmig angeordneter Kranz von Hochhäusern - das »Neue Kreuzberger Zentrum« - nach Plänen von Jokisch und Uhl geschaffen. Am U-Bahnhof Kottbusser Tor endet die Spurensuche in der alten Luisenstadt.

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Fakten aus der Geschichte der Luisenstadt:

um 1600 Entstehung der Köpenicker Vorstadt mit Gärten, Äckern und Vorwerken
1641 Niederbrennung der Vorstadt - in den folgenden Jahren Neuaufbau durch Einheimische sowie französische Flüchtlinge
1658-1683 Bau des Festungswalls um Berlin und Cölln 1694-1695 Errichtung der Sebastianskirche an der Alten Jakobstraße
1701 Vorstädte erhalten Bürgerrecht
1734-1737 Bau der Akzisemauer mit Schlesischem, Kottbusser und Halleschem Tor
1751-1753 Neubau der Sebastianskirche nach Überschwemmung in der Vorstadt
1802 Verleihung des Namens Luisenstadt
1840-1841 Pläne zur Bebauung des Köpenicker Feldes von Peter Josef Lenné
1844-1845 Bau der Jakobi-Kirche
1848-1852 Bau des Luisenstädtischen Kanals
nach 1860 Ausbau der Luisenstadt - Entstehung der typischen Mischung von Wohnen und Gewerbe 1867-1869 Abriß der Stadtmauer
1902 Bau der Oststrecke der Hoch- und U-Bahn (Linie 1)
1920 Neue Stadtgemeinde Berlin - Aufteilung der Luisenstadt zwischen Mitte und Kreuzberg
1926-1928 Zuschüttung des Luisenstädtischen Kanals beim Bau der U-Bahn Neukölln-
Gesundbrunnen
1945 Zerstörung des westlichen Teils der Luisenstadt durch Bombenangriffe
1961 Bau der Mauer quer durch die Luisenstadt
1989 Fall der Mauer - Bepflanzung des Streifens zwischen Engelbecken und Schillingbrücke mit Bäumen


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1996
www.berlinische-monatsschrift.de