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Herbert Schwenk
Ein Dualismus mit langer Tradition

1996 scheiterte die Länderfusion Berlin-Brandenburg

Der 5. Mai 1996 war als großer Tag für die Region Berlin-Brandenburg gedacht. In einer Volksabstimmung sollte die Mehrheit der Abstimmungsberechtigten in beiden Ländern die geplante Fusion der Länder Berlin und Brandenburg zu einem gemeinsamen Bundesland befürworten. Aber es kam anders. Während in Berlin 53,4 Prozent die Fusion bejahten (West-Berlin: 58,7 Prozent, Ost-Berlin 44,5 Prozent, lehnten in Brandenburg 62,7 Prozent der Abstimmungsberechtigten die »Länderehe« ab. Die Beteiligung an der Abstimmung der insgesamt 4 425 815 Berechtigten fiel in beiden Ländern mager aus: Brandenburg 66,6 und Berlin 57,8 Prozent.1)
     Das Abstimmungsverhalten der Wahlberechtigten in einzelnen Territorien, sozialen Schichten und Altersgruppen zeigte große Unterschiede. In Brandenburg stimmten vor allem die von Berlin entfernteren Territorien gegen die Fusion (z. B. Frankfurt/ Oder 66,9 Prozent, Prignitz 65,5 Prozent und Spree-Neiße 65,2 Prozent); in Berlin waren die Ablehnungsergebnisse vor allem in den ehemaligen Ostberliner Neubaubezirken

am höchsten (z. B. Hohenschönhausen 62,7 Prozent, Marzahn 59,6 Prozent, Hellersdorf 58,0 Prozent), gefolgt von den Ostberliner Innenstadtbezirken (Mitte 56,0 Prozent, Friedrichshain 55,6 Prozent, Prenzlauer Berg 53,7 Prozent). Dagegen wiesen die ehemaligen Westberliner Bezirke die höchste Zustimmung zur Fusion aus (z. B. Zehlendorf 67,9 Prozent, Steglitz 62,3 Prozent und Wilmersdorf 62,0 Prozent). Beim Abstimmungsverhalten einzelner sozialer Gruppen scheint unter Unternehmern die Aussicht auf Aufträge und Umsatz und bei Arbeitnehmern die Furcht vor der Arbeitslosigkeit entscheidend gewesen zu sein. So fällt vor allem die Zustimmung der Selbstständigen (Berlin: 68 Prozent, Brandenburg: 52 Prozent) und Rentner (Berlin: 69 Prozent, Brandenburg: 59 Prozent) für die Länderfusion auf, während die geringste Zustimmung unter Arbeitern (Berlin: 51 Prozent, Brandenburg: 30 Prozent) sowie Arbeitslosen (Berlin: 55 Prozent, Brandenburg: 35 Prozent) zu verzeichnen war. Schließlich zeigte das Abstimmungsverhalten auch hinsichtlich der Altersgruppen große Unterschiede. Die Ja-Stimmen nahmen in den höheren Altersgruppen zu: Während in der Gruppe 18-24 Jahre in Brandenburg nur 24 Prozent (Berlin: 46 Prozent), in der Gruppe 25-34 Jahre nur 27 Prozent (Berlin: 51 Prozent) und in der Gruppe 35-44 Jahre nur 33 Prozent (Berlin: 53 Prozent) zustimmten, waren es in der Gruppe 45-59 Jahre in Brandenburg 50 Prozent (Berlin: 68 Prozent) und in der Gruppe 60 Jahre und älter 61 Prozent (Berlin: 70 Prozent).
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Überstürzter Fusionsplan

Das Scheitern der Länderfusion Berlin-Brandenburg bei der Volksabstimmung 1996 zeigte einmal mehr, dass es eine große Kunst ist, Notwendiges und Vernünftiges auch zum richtigen Zeitpunkt zu realisieren.
     Der Zeitpunkt der Durchführung und die unzureichende Zeit der Vorbereitung des Volksentscheides sprechen für ein allzu blauäugiges Herangehen an die Lösung eines schwierigen, Jahrhunderte alten Problems.
     Der Startschuss fiel bereits kurz nach der Vereinigung im Februar 1991, als das Berliner Abgeordnetenhaus beschloss, eine Fusion mit Brandenburg grundsätzlich anzustreben. Schon am 29. Februar 1992 nahm eine gemeinsame Regierungskommission zur Länderfusion die Arbeit mit dem Ziel auf, bis Ende 1992 eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen. Bereits Ende 1992 legte die Kommission Eckpunkte einer ursprünglich für 1999 geplanten Fusion vor. Danach sollte im Herbst 1993 ein Fusions-Staatsvertrag fertig sein, ein Volksentscheid im Herbst 1994, spätestens Frühjahr 1995, stattfinden, und Mitte Januar 1993 beschlossen die Landesregierungen die Aufnahme förmlicher Verhandlungen.
     Schon Ende 1993 scheiterte jedoch die Fertigstellung des Staatsvertrages an der Uneinigkeit in Finanzfragen.

Als am 18. März 1994 der Bundesrat die Übergangsfinanzierung für ein gemeinsames Bundesland billigte, konnte die gemeinsame Regierungskommission im Juni 1994 den ersten Entwurf zum Fusions-Staatsvertrag vorlegen. Während jedoch früher (wie 1952 im Falle der Entstehung von Baden-Württemberg) eine Neugliederung noch durch Bundesgesetz möglich war (Artikel 29), erhielt die Fusion Berlin-Brandenburg ihre grundgesetzliche Basis erst durch eine Änderung des Grundgesetzes (Artikel 118a) im Oktober 1994, wonach nun die Fusion »unter Beteiligung ihrer Wahlberechtigten durch Vereinbarung beider Länder« ermöglicht wurde. Im Februar 1995 verabschiedete der Potsdamer Landtag einen Forderungskatalog für weitere Verhandlungen mit Berlin. Unbeschadet dessen unterzeichneten am 27. April 1995 der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen und der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe den Staatsvertrag der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes (Neugliederungs-Vertrag) sowie den Staatsvertrag zur Regelung der Volksabstimmungen in den Ländern Berlin und Brandenburg über den Neugliederungs-Vertrag. Schließlich wurden die Verträge am 22. Juni 1995 mit der nötigen Zweidrittelmehrheit in den jeweiligen Landesparlamenten beschlossen.
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     Im Vorfeld des Volksentscheides war es zu einem langen und zähen Schlagabtausch zwischen Fusionsanhängern und -gegnern gekommen.2)
     Für die Länderfusion hatten die SPD und CDU, Unternehmerverbände und der DGB geworben. Einige Brandenburger SPD-Landräte, die ÖTV, die PDS sowie Bündnis 90/Grüne (mit Unterschieden in Berlin) sprachen sich dagegen aus. Unter dem Motto »Gemeinsam sind wir stärker - gemeinsam erreichen wir mehr« verwiesen die Befürworter insbesondere auf Vorteile für die Entwicklung der Wirtschaft, Schaffung neuer Arbeitsplätze, gemeinsame Raumordnung, Landesplanung, Verbesserung der Verwaltung in Stadt und Land und den Modellcharakter der Fusion als »Werkstatt der Einheit und Reformprojekt für den Bundesstaat« sowie das höhere Gewicht des neuen Bundeslandes im Bund und in der Europäischen Union.
     Im Falle der Zustimmung im Volksentscheid am 5. Mai 1996 wäre ein neues Bundesland von knapp 30 000 km² (Berlin: 892, Brandenburg: 29 059 km²) entstanden, in dem rd. 6 Mill. Menschen (3,46 Mill. in Berlin und 2,55 Mill. in Brandenburg) leben. Mit einem Bruttoinlandprodukt von etwa 180 Mrd. DM pro Jahr (Berlin 135, Brandenburg 47) wäre ein gemeinsames Land im Bund auf den 6. Platz
(hinter Niedersachsen und vor Rheinland/ Pfalz) vorgerückt. Und: Mit der Fusion hätte Berlin seinen seit 1950 für West-Berlin und seit 1990 für Gesamt-Berlin bestehenden Doppelcharakter eines deutschen Landes und zugleich einer Stadt aufgehoben und wieder den Status allein einer Kommune inne gehabt. Aber mit dem Ausgang der Abstimmung kam weder dies noch das von manchen Politikern erhoffte und erwartete Signal für die Neuordnung der Länder im übrigen Bundesgebiet zustande.
     Für das Projekt der Länderfusion wurden aber vor allem auch Gründe geltend gemacht, die mit der historischen Zusammengehörigkeit von Brandenburg und Berlin und den neuen Gegebenheiten der deutschen und Berliner Wiedervereinigung seit 1990 zusammenhängen. Dazu gehört, dass im Ergebnis des Zusammenbruchs der DDR auch deren 1952 eingeführte neue administrativ-territoriale Struktur, die die alte Länderstruktur beseitigt und eine neue Bezirksstruktur geschaffen hatte, hinfällig geworden war. Die alten ostdeutschen Länder konnten wieder zur Realität werden und so auch das Land Brandenburg wiedererstehen.
     Im spannungsvollen Dualismus zwischen dem Land Brandenburg und der Stadt Berlin wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Dieser Dualismus ist uralt, wie die Geschichte zeigt.
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Es begann vor langer Zeit ...

Als der Graf von Ballenstedt aus dem Fürstenhaus der Askanier Albrecht I. »der Bär« (um 1100-1170) 1134 mit der Nordmark (später Altmark) belehnt und mit der Eroberung der »Priegnitz« (etwa das Gebiet um Pritzwalk) und »Zauche« (etwa das Gebiet zwischen Brandenburg a. d. Havel und Treuenbrietzen) sowie der Spree- und Havelländer den Grund zur Mark Brandenburg gelegt hatte (seit 1157 führte er den Titel eines Markgrafen von Brandenburg), war auf dem märkischen Sand von Berlin weit und breit noch nichts zu sehen.
     Es musste erst ein Jahrhundert vergehen, bis Cölln (1237) und Berlin (1244) als städtische Gemeinwesen erstmals in (überlieferten) Urkunden Erwähnung fanden. Dabei wird allgemein angenommen, dass die Markgrafen-Brüder Johann I. (1213?-1266) und Otto III. (1215?-1267) im Zuge ihrer brandenburgischen Städtegründungen zwei damals bereits bestehende Siedlungen am Spreeübergang »um 1230« zu Städten erhoben hatten. Beide, die Doppelstadt (trotz vieler Gemeinsamkeiten hatten Berlin und Cölln jedoch bis 1709 getrennte Verfassungen und Verwaltungen) und die Mark, beeinflussten sich wechselseitig im Auf und Ab ihrer Geschichte. Die Mark (seit 1356 Kurfürstentum) avancierte rasch durch fortgesetzte Kolonisationstätigkeit, deutsche Besiedlung, Landesausbau und Landesentwicklung von der »Streusandbüchse« des Heiligen Römischen

Reiches Deutscher Nation zu einem der bedeutendsten deutschen Kurfürstentümer. Und parallel dazu entwickelte sich Berlin/ Cölln nach seinem späten »Start« zu einer der bedeutendsten märkischen Handelsstädte mit hoher städtischer Autonomie und opulenten städtischen Rechten und Privilegien, u. a. der Münzhoheit (1369) und der Gerichtsgewalt (1391).
     Etwa zwei Jahrhunderte lang verteidigte die Doppelstadt unter wechselnden brandenburgischen Landesherrschaften (Askanier, Bayern, Luxemburger, Hohenzollern) ihre Macht und baute sie geschickt aus. Ihrer Diplomatie sowie wirtschaftlichen Stellung und Attraktivität hat es wohl die märkische Kleinstadt Berlin/Cölln zu verdanken, dass sie schon vor Beginn der Hohenzollernherrschaft (1411/17) als Hauptstadt der Landschaften Barnim und Teltow galt, Versammlungsort der mittelmärkischen Stände wurde und schon vor 1359 zum Hansebund gehörte. Der Grundstock für den historischen Dualismus zwischen dem Land Brandenburg und seinem werdenden administrativen Zentrum Berlin war gelegt. Dieser Dualismus verschärfte sich, seit, beginnend mit Friedrich I. von Hohenzollern (1371-1440, seit 1411 Oberster Verweser und Hauptmann der Mark Brandenburg und seit 1417 Kurfürst und Markgraf von Brandenburg), die Mark für ein halbes Jahrtausend zum Kernland der Hohenzollerndynastie und Berlin zur Kurfürsten- und später Königs- und Kaiserstadt wurden.
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     Es waren stets Gemeinsamkeit und Widerstreit der Interessen, die das Land Brandenburg und seine Hauptstadt verbanden. Die Interessen beider stimmten überein, wenn es um wirtschaftlichen Aufstieg, Förderung von Kunst, Kultur und Städtebau, Repräsentation und vor allem um Schutz und Sicherheit ging. Aber die Interessen prallten aufeinander, wenn landesherrliche Macht und städtische Autonomie, Rechte und Privilegien aufeinander stießen. Bereits unter dem zweiten Hohenzollernherrscher Friedrich II. »Eisenzahn« (1413-1471, Kurfürst 1440-1470) wurde die kommunale Selbstverwaltung entmachtet, als er 1442 die Stadt gewaltsam unterwarf, Rechte und Privilegien liquidierte, die Stadtverwaltung selbst einsetzte, 1443-1451 sein Burgschloss an der Spree erbaute; sein Enkel Johann Cicero (1455-1499, Kurfürst seit 1486) nebst Nachfolgern hielten seit 1487 dauernd im Berliner Schloss Hof.
     So wurde Berlin/ Cölln auch zur Residenz der Kurfürsten von Brandenburg und zum Sitz der brandenburgischen Landesbehörden. Im Ergebnis der Expansion Brandenburg-Preußens (Kleve 1614, Hinterpommern 1648, Erhebung des Herzogtums Preußen zum Königreich 1701 unter Kurfürst Friedrich III. [1657-1713, Kurfürst seit 1688], drei Schlesische Kriege 1740-1763 unter Friedrichs II. [1712-1786, König seit 1740]) wurde Berlin zum Zentrum einer absolutistischen preußischen Monarchie,
die zu einer europäischen Großmacht geworden war und deren Staatsgebiet sich seit dem ersten Hohenzollernherrscher bis zum Tod Friedrichs II. um das Neunfache vergrößert hatte - von ca. 22 000 km² auf rd. 198 000 km² mit 5,5 Mill. Einwohnern (1786). Die Hauptstadt profitierte in nicht geringem Maße von der Vergrößerung des Beamten- und Militärapparates, hatte aber auch ihre Probleme damit, wenn z. B. die Hof- und Militärbeamten zwar in Berlin wohnten, aber nicht mehr der städtischen Jurisdiktion unterstanden. Die umfängliche kurfürstliche und königliche Hofhaltung und Verwaltung (bereits unter Joachim I. [1484-1535, Kurfürst seit 1499] bestand sie aus etwa 400 Personen) war ein wichtiger Faktor der Berliner Wirtschaft. Und ständig wurden neue Behörden und Ämter geschaffen und in Berlin ansässig - staatliche, juristische, kirchliche und militärische. Kurfürst Joachim II. (1505-1571, Kurfürst seit 1535) schuf das Kammergericht und den Hofrat, machte nach Einführung der Reformation in Brandenburg (1539) Berlin zum Sitz des neu geschaffenen Konsistoriums, und die Stadtgemeinde erlangte das Kirchenpatronat, das zuvor der Landesherr gehabt hatte; der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm gründete die Geheime Hofkammer und das Generalkriegskommissariat, der »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. (1688-1740, König seit 1713) das Generaldirektorium.
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Und seit 1657 war Berlin auch Garnisonstadt, die eine ständig wachsende Zahl von Militärpersonal in die Stadt zog: 1730 kamen auf eine Zivilbevölkerung von 58 122 Einwohnern 14 265 Militärpersonen, 1750 waren von den 113 300 Einwohnern 20 000 Soldaten. Auch dies war Wirtschaftsfaktor und Stadtplage zugleich. Nicht zuletzt hat auch die religiöse Toleranz brandenburgisch-preußischer Herrscher wesentlich die wirtschaftlich und kulturelle Entwicklung Berlins befördert, zum Beispiel durch den Großen Kurfürsten, der mit dem Juden-Edikt von 1671 ermöglichte, dass bis 1700 die Zahl der jüdischen Familien in Berlin/Cölln auf 70 anstieg, oder durch die Einwanderungspolitik des »Soldatenkönigs« und seines Sohnes Friedrichs II., die auch der Berliner Wirtschaft Impulse verlieh (1699 wurden in Berlin 5 682 französische Zuwanderer gezählt).
     Im Jahre 1709 schuf König Friedrich I. aus mehreren Städten erstmals eine Berliner Einheitsgemeinde und begünstigte auch damit erheblich die weitere Stadtentwicklung, wenn auch unter dem Reglement einer absolutistischen Stadtverfassung, die sein Enkel Friedrich II. 1747 der Stadt aufzwang, z. B. mit der Beaufsichtigung des Berliner Magistrats durch die kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer. Unbeschadet dessen erweiterte sich Berlin erheblich und veränderte durch zahlreiche Bauten und Umgestaltungen im »preußischen Stil« ihr städtebauliches und architektonisches Gesicht. Berlin war unter dem Absolutismus bis 1800 auf ein städtisches Territorium von 1 400 ha angewachsen und
galt mit seinen 172 000 Einwohnern nach Petersburg, London und Paris nicht nur als viertgrößte europäische Stadt, sondern war auch zur führenden Industriestadt Preußens geworden.

Ein neuer Abschnitt im alten Dualismus

Einen neuen Einschnitt im historischen Dualismus von brandenburgischen Landes- und Berliner Stadtinteressen markiert das Jahr 1815. Nach dem militärischen Fiasko Preußens bei Jena und Auerstedt (1806) wurde im Tilsiter Frieden (1807) das Staatsgebiet auf rd. 158 000 km² reduziert. Nach den großen territorialen Zugewinnen auf und nach dem Wiener Kongress 1815 wurde Brandenburg als Kernland des Königreichs Preußen eine von acht (später 12 und 14) Provinzen, deren nordöstlichste »Preußen« 1878 noch einmal in die Provinzen »Ostpreußen« und »Westpreußen« geteilt wurde. Die preußische Monarchie umfasste nun sogar ein Staatsgebiet von 280 000 km², bewohnt von 10,5 Mill. Einwohnern. Zur Provinz Brandenburg gehörten von der ehemaligen Mark Brandenburg, die sich um 1320 noch auf mehr als 45 000 km² ausdehnte (vergleichsweise zählt das Bundesland Brandenburg heute 29 059 km²) nur noch ein Teil, darunter die Mittelmark, die Uckermark, die Prignitz und der größte Teil der Neumark sowie vom Königreich Sachsen, als »Strafe« für dessen Kollaboration mit Napoleon an Preußen abgetreten, die Niederlausitz und fast die Hälfte der Oberlausitz.

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Das Königreich Preußen im Jahre 1815
     An die Stelle der absolutistischen Stadtverfassung bzw. der von 1806-1808 geltenden französischen Gemeindeverfassung war die bürgerliche preußische Städteordnung getreten, die der König am 19. November 1808 bestätigt hatte und die 1853 für die östlichen Provinzen modifiziert wurde. Unter deren Wirksamkeit wurden in Berlin im Laufe des 19. Jahrhunderts alle wichtigen Einrichtungen einer modernen Groß- und Hauptstadt geschaffen. Gefördert und begünstigt durch die Landesverwaltung, nahm Berlin als preußische Königs- und Kaiserstadt (seit 1867 Hauptstadt des Norddeutschen Bundes, seit 1871 Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs) eine Sonderstellung ein, die sie in den Rang einer deutschen Metropole und Weltstadt brachte.
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Preußen erzielte durch weitere Annexionen bis 1871 einen Gebietszuwachs von 72 022 km² mit 4,8 Mill. Bewohnern und bildete mit seinen nunmehr 347 500 km² und 23,6 Mill. Einwohnern ein auch geografisch zusammenhängendes Staatsgebiet. Abertausende von Menschen zog es nun aus den östlichen Provinzen nach Berlin; 1877 wurde die 1-Million-Einwohner-Grenze und 1905 die 2-Millionen-Einwohner-Grenze (einschließlich 22 388 »aktiver Militärpersonen«) überschritten. Allein zwischen 1896 und 1900 erfolgte ein Zuwachs von 211 544 Personen (= 12,6 Prozent) und von 1901 bis 1905 von 151 300 Personen (= 8,0 Prozent). Von den am 1. Dezember 1905 in Berlin anwesenden 2 042 402 Einwohnern waren 822 270 in Berlin (= 40,1 Prozent) und 1 062 074 (= 52 Prozent) in anderen preußischen Provinzen geboren, davon: 358 322 in Brandenburg, 146 167 in Schlesien, 130 710 in Pommern, 104 250 in Posen, 100 353 in Ostpreußen, 83 552 in Sachsen und 82 030 in Westpreußen.
     Berlin und die Randwanderung seiner Industrie seit 1882 fraßen sich immer weiter ins brandenburgische Umland. Neue große Vorstädte und Vororte waren entstanden, die 1861 unter König Wilhelm I. (1797-1888, König seit 1861) in erheblichem Umfang nach Berlin eingemeindet wurden. Berlin wuchs dadurch um fast 70 Prozent seiner Stadtfläche von 35,1 auf 59,2 km², auf der danach 547 200 Einwohner lebten.
Landes- und seit 1871 Reichsobrigkeit profitierten vom Aufstieg Berlins zur deutschen Industrie- und Verkehrsmetropole und förderten diesen, mussten aber zugleich hinnehmen, dass sich ihre absolutistische Residenz zur bürgerlichen Kapitale wandelte und ihnen dieser Moloch städtebaulich und architektonisch entwuchs.
     1878 schied Berlin aus der Provinz Brandenburg aus und bildete nach dem preußischen Gesetz vom 30. Juli 1883 einen »Stadtkreis Berlin« für sich, hatte jedoch mit der Provinz Brandenburg noch einige Verwaltungsbehörden als höhere Instanz gemeinsam (u. a. das Oberpräsidium, Konsistorium, Provinzialschul- und Medizinalkollegium). Das Territorium Brandenburgs verkleinerte sich dadurch von 39 893 km²(März 1881) auf 39 835 km². Der traditionelle Dualismus von Zentral- und Stadtinteressen blieb nicht nur bestehen, sondern erhielt eine neue Dimension.
     Nach der Jahrhundertwende war Berlin Sitz fast aller Reichsbehörden (mit Ausnahme des Reichsgerichts in Leipzig und des Oberrechnungshofes in Potsdam), aller preußischen Hof- und Staatsbehörden (wie Ministerium des königlichen Hauses, oberste Hofämter, beide Häuser des Landtages, Ministerien des Königreichs Preußen), bedeutender Provinzialbehörden (wie die Landratsämter der Kreise Niederbarnim und Teltow und die fürstbischöfliche Delegatur Berlin),
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   97   Probleme/Projekte/Prozesse Länderfusion  Voriges BlattNächstes Blatt
Militärbehörden (wie das Reichsmilitärgericht, der Generalstab der Armee, das Oberkommando in den Marken, Generalinspektionen, militärische Strafanstalten) und Gerichtsbehörden (wie ein Oberlandesgericht mit dem Titel Kammergericht). Hinzu kamen weitere überregionale Einrichtungen wie der Sitz der königlichen preußischen Eisenbahndirektion und der kaiserlichen Oberpostdirektion, die königlichen Akademien der Wissenschaften und der Künste, Institute, Hochschulen und höhere Bildungsanstalten. Der Ausbau Berlins als Reichszentrale komplizierte die Entwicklung und auch Verwaltung der Stadt. Wichtigste Organe der Stadtverwaltung, die den Dualismus von Zentral- und Stadtinteressen vor allem verkörperten, waren in jener Zeit das Polizeipräsidium als königliche Instanz mit der mächtigen Stellung des Amts des Berliner Polizeipräsidenten einerseits und der Magistrat als städtische Behörde andererseits. Das so erzeugte administrative Chaos in der Verwaltung Berlins kam darin zum Ausdruck, dass um die Jahrhundertwende 400 Bezirke mit je einem gewählten Bezirksvorsteher, ferner 111 Polizeireviere und 21 Standesamtsbezirke sowie 427 Steuer-Unterkommissionen in Berlin nebeneinander bestanden.
     So wurde der Ruf nach einer Vereinheitlichung der Verwaltung, aber auch nach Eingemeindung neuer großer Umlandgebiete, Dörfer und Städte nach Berlin immer lauter.

Nachdem das Zweckverbandsgesetz vom 19. Juli 1911 nur unbefriedigende Teillösungen gebracht hatte, erfolgte nach dem Sturz des deutschen Kaisertums und preußischen Königtums im November 1918 mit dem Gesetz über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin, das am 1. Oktober 1920 in Kraft trat, die umfassendste Stadterweiterung in der Geschichte Berlins.

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Während die Stadt sich um das 13fache von 66,9 auf 878,1 km²vergrößerte und nach London und New York zur drittgrößten Metropole der Welt wurde, verlor Brandenburg 800 km²(= 2 Prozent seines Territoriums) und 1,9 Mill. Einwohner (= rd. 44 Prozent seiner Bevölkerung). Brandenburgs Bevölkerungsdichte ging von 70 Ew./km² (um 1900) auf 66,3 (1925) zurück. Der Großraum Berlin erlangte gegenüber dem übrigen Brandenburg ein starkes Übergewicht, das für neuen Zündstoff im alten Dualismus und Widerstreit der Interessen sorgte - bis heute. Unter der NS-Diktatur war noch einmal versucht worden, durch mehrere Gesetze (u. a. Einsetzung eines Staatskommissars in der Hauptstadt Berlin, Entmachtung der Stadtverordnetenversammlung und Bezirksversammlungen, Stellung des Oberbürgermeisters als Landesbeamter), die Stadt diktatorisch zu entmündigen und in absolutistische Zeiten zurückzuversetzen, bevor im Mai 1945 wieder demokratischen Verhältnissen die Tür geöffnet wurde.3)
     Durch einen Beschluss des Parlamentarischen Rats vom 10. Mai 1949, bestätigt vom Deutschen Bundestag am 3. November 1949, wurde Bonn zum provisorischen Sitz von Parlament und Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Berlin zu einem Land derselben bestimmt. Die »Verfassung von Berlin«, verkündet am 1. September 1950, in Kraft gesetzt am 1. Oktober 1950 und angewendet auf West-Berlin,
verankerte in Artikel 1, Absatz 2 den Länderstatus Berlins. Ost-Berlin hingegen wurde laut erster Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 zur Hauptstadt der DDR erklärt und sukzessiv zu deren politisch-administrativem Zentrum ausgebaut. Die Zeit des Kalten Krieges, der Spaltung Deutschlands und Berlins und der Liquidierung der Länderstruktur in der DDR nach dem »Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR« vom 23. Juli 1952 rückten die Fusion von Berlin und Brandenburg in weite Ferne.
     Erst mit der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 und ihren Folgeereignissen trat das Thema der Fusion der Länder Berlin und Brandenburg auf die Tagesordnung der Geschichte. In der Verfassung von Berlin vom 23. November 1995, die das Abgeordnetenhaus von Berlin am 8. Juni 1995 beschlossen und der die Bevölkerung von Berlin in der Volksabstimmung vom 22. Oktober 1995 zugestimmt hatte, war in Artikel 1 (1 und 2) der Status des wieder vereinigten Berlin verankert worden:
     »Berlin ist ein deutsches Land und zugleich eine Stadt«; »Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland«. Die Volksabstimmung über die gescheiterte Fusion vom 5. Mai 1996 vermochte daran zunächst nichts zu ändern.
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   99   Probleme/Projekte/Prozesse Länderfusion  Voriges BlattNächstes Blatt
Das letzte Wort steht noch aus

Das Ergebnis des Volksentscheides von 1996 schien vorerst die Fusionsgegner zu bestätigen. Im Zentrum ihrer »kritischen Fragen und Gegenargumente« stand und steht die Aussage, dass die Situation für die Bildung eines gemeinsamen Landes »noch nicht reif« sei und die Fusion nicht allein »von oben« erfolgen dürfe. Nur eine Neugliederung des Bundesgebietes insgesamt gewährleiste eine ausgeglichene Länderstruktur; beide Partner hätten wechselseitige Ängste und Befürchtungen vor einer Übermacht des jeweils anderen; die Gleichzeitigkeit von Regierungsumzug, Verwaltungsreform und Länderzusammenschluss überfordere Berlin.
     Aber die Argumente der Geschichte und Gegenwart, die für die Zusammengehörigkeit Berlins und Brandenburgs sprechen, lassen sich mit der gescheiterten Fusion von 1996 nicht zu den Akten legen. Schon bald nach dem Scheitern meldeten sich die Spitzen der unterlegenen Befürworter wieder zu Wort. Im November 1996 einigten sich Ministerpräsident Stolpe und der Regierende Bürgermeister Diepgen darauf, die Zusammenarbeit nach der gescheiterten Fusion zwischen den Ländern künftig mit Hilfe eines »Kooperationsrates« fortzusetzen. Im November 1999, nach der Landtagswahl in Brandenburg und der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin, wurden neue


So sollte das bereits entworfene Wappen für die vereinigten Länder Berlin und Brandenburg aussehen

Absichtserklärungen zugunsten eines »zweiten Anlaufs« zur Länderfusion abgegeben. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) sprach von einem denkbaren Neuanlauf 2004, Manfred Stolpe von 2010. Im April 2001 vereinbarten schließlich Stolpe und Diepgen für das Jahr 2006 eine neue Volksabstimmung zur Vereinigung beider Länder. Bei einem positiven Votum sollte dann 2009 die »Länderehe« vollzogen werden.

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Allerdings wurde der Neuanlauf von der Bedingung abhängig gemacht, dass die Stadtstaatenregelung auch nach der Fusion für Berlin weiter Bestand haben müsse.
     Welchen Einfluss dabei jüngste demografische und politische Entwicklungen haben werden, ist noch nicht abzusehen. Das sind in erster Linie düstere Prognosen der Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg und Berlin und der Bruch der Berliner CDU-SPD-Koalition im Juni 2001 im Ergebnis der dramatischen Berliner Finanzkrise, mit einem Haushaltsdefizit von 9,6 Mrd. Mark, von denen sechs Milliarden allein durch die Finanzaffäre der Bankgesellschaft verschuldet wurden. Nach einer Studie des Prognos-Instituts für die demografische Entwicklung Berlins bis 2010 (Stand 1997) wird auch bei künftig hoher Lebenserwartung, konstant niedrigen Geburtenraten und weiterhin hoher Dynamik der Zu- und Abwanderung per Saldo ein Rückgang der Einwohnerzahl der Bundeshauptstadt von knapp 100 000 Menschen erwartet. Für Brandenburg fällt die Prognose noch erschreckender aus. Mitte Juni 2001 veröffentlichten der Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik (LDS) und das Landesumweltamt (LUA) eine Bevölkerungsprognose bis zum Jahr 2015, wonach besonders die Gebiete am Rande des Bundeslandes »veröden und vergreisen« und Städte wie Cottbus, Frankfurt/ Oder und Brandenburg/ Havel 10 Prozent ihrer Bewohner verlieren werden. Bis Ende 2015 werden 49 Prozent mehr Brandenburger gegenüber 1999 älter als 65 Jahre sein; jeder zweite Rentner wird dann über 75 Jahre alt sein.
Ministerpräsident Stolpe beeilte sich indes, zum Berliner Regierungswechsel vom 16. Juni 2001 zu erklären: »Wir halten daran fest, uns als gemeinsames Bundesland noch in diesem Jahrzehnt den Zukunftsaufgaben zu stellen.«

Quellen:
1 Diese und folgende Daten zur Volksabstimmung vgl. »Berliner Zeitung« v. 6., 7. und 13. Mai 1996
2 99 Fragen und Antworten zur Länderfusion, Hrsg.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin und der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, o. J.; Berlin-Brandenburg; Informationen zur Vereinigung beider Länder. Hrsg.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin/ Der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Berlin/ Brandenburg a. d. Havel, 2. Auflage, 1995
2 Ulrich Hartmann, Stephan Herten, Klaus Schroeder, Land in Sicht. Die Fusion von Berlin und Brandenburg, Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge, Berlin 1996

Berlin und Brandenburg - ein Land? Das Buch zur Fusion, Berlin 1996
Zur Verfassungsgeschichte Berlins, in: Berlin in Zahlen 1946/1947, hrsg. vom Hauptamt für Statistik und Wahlen des Magistrats von Groß-Berlin, Berlin 1949, S. 2-7
Bildquellen:
Rudolf Herzog: Preußens Geschichte; Leipzig, Verlag Quelle&Meyer, 1913

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
www.berlinische-monatsschrift.de