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Herbert Schwenk
Eine umstrittene Massenhochzeit

Das Gebietsreformgesetz von 1998 und die neuen Großbezirke

Mit dem Gebietsreformgesetz vom 10. Juni 1998 wurde noch vor Ende des 20. Jahrhunderts und vor dem Berliner Regierungswechsel vom 16. Juni 2001 ein einschneidendes Reformwerk für die neue Bundeshauptstadt in Kraft gesetzt. Kernstück ist die neue Verwaltungsstruktur von Berlin. Von den früher 23 gingen per Verordnung 20 Bezirke »Zwangsehen« ein und bilden seit dem 1. Januar 2001 neun neue Großbezirke. Nur die drei bevölkerungsstärksten Bezirke Spandau, Neukölln und Reinickendorf - alle aus der westlichen Stadthälfte - blieben »Singles«. Aus der Massenhochzeit gingen zwei »Dreier« und sieben »Zweier« hervor. Die ehemaligen Bezirke Mitte, Tiergarten und Wedding schlossen sich zum neuen Bezirk »Mitte«, die ehemaligen Bezirke Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee zum Großbezirk mit dem umstrittenen Namen »Pankow« zusammen. Die »Zweier« bilden Friedrichshain-Kreuzberg, Charlottenburg-Wilmersdorf, Steglitz-Zehlendorf, Tempelhof-Schöneberg, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg-Hohenschönhausen;

letzterer Bezirk trägt seit dem 1. Juni 2001 den Namen »Lichtenberg«. Betroffen wurden von der Massenhochzeit insgesamt 3 382 877 Berliner und eine Stadtfläche von 89 169 ha (Stand Ende Juli 2000). Am 27. März 1998, dem Tag nach der Entscheidung über die Bezirksreform im Berliner Parlament, wertete die »Berliner Morgenpost« das Ereignis enthusiastisch: »Ein historischer Tag für Berlin. Ein politischer Erfolg für die große Koalition. Das Abgeordnetenhaus hat gestern mit knapper Mehrheit das größte Reformpaket in der Hauptstadt seit 1920 beschlossen.« Von 206 Abgeordneten hatten 140 in namentlicher Abstimmung für die Reformen votiert. Da für die Änderung der Berliner Landesverfassung eine Zwei-Drittel-Mehrheit (138 Stimmen) notwendig war, fiel das Abstimmungsergebnis denkbar knapp aus. Es bringt auf seine Weise das heftige Für und Wider im Vorfeld der Bezirksreform und auch danach zum Ausdruck.

Erst 18 Bezirke, dann nur noch zwölf

Die Vorgeschichte der Bezirksfusionen war 1996 in ihr entscheidendes Stadium getreten. Nachdem im Ergebnis der Parlamentswahlen 1995 in Berlin erneut eine Große Koalition, die bereits seit 1991 bestand, zustande gekommen war, hatten die Berliner SPD und CDU nach jahrelangen Diskussionen in ihrem Koalitionspapier Anfang 1996 beschlossen, im Jahre 1999 eine Bezirksreform durchzuführen.

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Sie sollte nach damaligen Vorstellungen zeitgleich mit der geplanten Länderfusion Berlin-Brandenburg stattfinden, die dann jedoch an der Ablehnung Brandenburgs beim Volksentscheid am 5. Mai 1996 scheiterte. Die Reform sah nach jenen Vorstellungen noch vor, die Zahl der Bezirke von 23 auf 18 zu reduzieren. Aber schon im Herbst 1996 wurde eine Variante in die Öffentlichkeit gebracht, der zufolge die Zahl der Bezirke auf zwölf reduziert werden sollte. Damals sollten noch als neue Dreier-Bezirke Tiergarten-Mitte-Kreuzberg (auch »City-Bezirk« genannt) und Pankow-Weißensee-Hohenschönhausen fusionieren, als Zweier-Bezirke Wedding-Prenzlauer Berg, Friedrichshain-Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Zehlendorf-Steglitz, Schöneberg-Tempelhof und Köpenick-Treptow zusammengelegt werden; als Solo-Bezirke waren vorgesehen - und sollten es bleiben - Spandau, Neukölln und Reinickendorf. Aber diese ersten Vorschläge konnten sich nicht durchsetzen. Am 26. Februar 1998 verständigte sich der Koalitionsausschuss von CDU und SPD erneut auf ein Modell von zwölf Bezirken, nahm jedoch deutliche Korrekturen an den Zusammenlegungen vor, die vor allem die östlichen Bezirke betreffen. Einen Monat später, am Abend des 26. März 1998, kam es darüber zur entscheidenden Abstimmung im Berliner Abgeordnetenhaus. Bei der knappen Zwei-Drittel-Mehrheit von 138 Stimmen für die Änderung der Berliner Landesverfassung stimmten alle 87 CDU- sowie 53 SPD-Abgeordneten für das Reformprojekt, dagegen zwei SPD-Abgeordnete sowie die Oppositionsfraktionen Grüne und PDS. Während der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen von einem »historischen Tag« und dem größten Reformprojekt seit der Gründung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin (1920) sprach, kritisierte die PDS-Fraktions-Chefin Carola Freundl die beschlossene Gebietsreform als »ein reines Kunstprodukt der Großen Koalition«. Die Berliner Presse sprach von »Jahrhundertreform« und »Jahrhundertwerk«, die Gegner der Reform von »Konstrukt«, »Verwaltungsroulette« und »Kopfgeburt«. Als Gebietsreformgesetz erhielt der Beschluss des Abgeordnetenhauses zur Reform der Berliner Verwaltung schließlich am 10. Juni 1998 Gesetzeskraft.
     Das Gebietsreformgesetz bestimmt neben der Neufestlegung der Bezirke auch, den Berliner Senat um zwei Senatoren auf acht zu verkleinern, nachdem er anfänglich aus 16 und später 11 Mitgliedern bestanden hatte. Gemäß dem Gesetz werden im Abgeordnetenhaus nur noch mindestens 130 Abgeordnete statt bisher mindestens 150 sitzen. Die Bezirksämter der zwölf Bezirke bestehen nun aus sechs statt bisher aus vier Stadträten.
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Karte mit den 12 neuen Berliner Großbezirken
Der gleitende Übergang bis zum 1. Januar 2001 wurde so vollzogen, dass nach den Berliner Wahlen am 10. Oktober 1999 die Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) noch in den alten Bezirksgrenzen gewählt wurden, und zwar in der Stärke, in der sie ab 1. Januar 2000 bestehen: 89 Mitglieder in den Trio-Bezirken, 69 in den Duo-Bezirken und 55 in den Solo-Bezirken. Bis Ende September 2000 tagten die BVV der 20 von Fusionen betroffenen Bezirke vorübergehend noch getrennt, begannen aber bereits miteinander zu kooperieren. Zwischen Anfang Oktober und Ende Dezember 2000 wurden die BVV endgültig zusammengeführt und ihre Bezirksämter gewählt. Die Amtszeit der neuen Bezirksämter begann am 1. Januar 2001.
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Nach den Wahlen im Jahre 2004 werden die BVV in allen zwölf Großbezirken nur noch aus jeweils 55 Mitgliedern bestehen. Fragen wie die nach den neuen Bezirksnamen und -wappen, Rathausstandorten und andere sollten in den neuen Bezirken geklärt werden.
     Inzwischen ist auch bei den Befürwortern der Bezirksfusionen eine deutliche Ernüchterung eingetreten. 1998 war in der Senats-Innenverwaltung noch von »mehr Bürgernähe«, »mehr Effizienz« und »mehr Zukunft« die Rede, 200 Millionen DM und 3 000 Stellen im öffentlichen Dienst sollten eingespart werden. Allein aus der Verringerung der Zahl der Bezirksbürgermeister von 23 auf zwölf wurde ein Spareffekt von 1,7 Mill. Mark pro Jahr, aus der von 92 Stadträten auf 48 von 6,1 Mill. Mark pro Jahr, aus der von 1 012 Bezirksverordneten auf 660 von 7,9 Mill. Mark pro Jahr und der von 206 Abgeordnetenhausmitgliedern auf 140 von 5,2 Mill. Mark pro Jahr errechnet. Diesen Erwartungen widersprechen vehement die Kritiker der Bezirksreform. Sie verweisen darauf, dass im Interesse einer orts- und bürgernahen Verwaltung Außenstellen der Ämter geschaffen und Ausgaben für neue Technik in den Verwaltungen eingeplant werden müssen. Jede Verwaltungsreform müsse vor allem - so die Kritiker - die Leistungen der Verwaltungen für die Bürger verbessern. Sie fordern in erster Linie Einsparungen in den Hauptverwaltungen des Senats, denn von 1991 bis 1999 ist die
Zahl der Beschäftigten der Hauptverwaltung des Landes Berlin weiter gestiegen: von 87 837 auf 113 509, das bedeutet einen Zuwachs von 29,2 Prozent, darunter die Zahl der Beamten und Richter von 37 945 auf 71 519, d. h. um 88,5 Prozent! Dagegen ist die Zahl der Beschäftigten in den Bezirksverwaltungen im gleichen Zeitraum deutlich gesunken: von 162 087 auf 71 069, das ist ein Rückgang um 56,2 Prozent, darunter die Zahl der Beamten von 23 870 auf 10 050, d. h. um 57,9 Prozent.
     Es wurde bald deutlich, dass den erwarteten Einsparungen erhebliche Kosten für die Umstrukturierung gegenüberstehen. Fehleinschätzungen werden allerorts moniert. Die Umstellung braucht wesentlich mehr Zeit, als ursprünglich veranschlagt worden war. Personal fehlt dort, wo es gebraucht wird, zum Beispiel in den Meldestellen, die an die Bezirke übergeben wurden. Durch Reduzierung von Öffnungs- und Sprechzeiten kam es mancherorts zu langen Wartezeiten und Überlastung der Bezirksmitarbeiter. Im neuen »Regierungsbezirk« Mitte müssen von 6 000 Stellen rund 400 gestrichen werden. Während die Fusion kurzfristig nur Kosten brachte, ruhen alle Hoffnungen des Senats nun bei den »mittelfristigen Einsparungen« - man erwartet 160 Millionen jährlich. Und dies alles vollzieht sich vor dem Hintergrund der größten Berliner Haushaltskrise der Nachkriegszeit als Folge der Bankaffäre um die Bankgesellschaft Berlin. Die Verschuldung der Bundeshauptstadt wird bis Ende 2001 auf rund 69 Mrd. DM angewachsen sein.
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Der Regierungswechsel vom 16. Juni 2001 mit den damit verbundenen Übergangsgeldern, Ruhegeldern usw. für ausscheidende Politiker belastet den Landeshaushalt weiter.

Mehr oder weniger Aufregung um Bezirksnamen

Querelen gibt es auch bei der Namensgebung der fusionierten Bezirke, insbesondere im neuen Nordostbezirk Pankow-Prenzlauer Berg-Weißensee. Nachdem am 6. Dezember 2000 die BVV die Benennung »Pankow« beschlossen hatte, entrüsteten sich vor allem die »Prenzlberger«, zu »Pankowern« gemacht zu werden. Die BVV musste den Protesten nachgeben und nach nur fünf Monaten ihren Dezemberbeschluss außer Kraft setzen und eine Namensänderung einleiten. Während die Grünen für den Namen »Nordost« plädierten, drängte eine Mehrheit auf die Durchsetzung einer Nummerierung aller zwölf Bezirke bis Ende 2001 gemäß Artikel 4 der Berliner Landesverfassung und favorisierte dem entsprechend schon mal den Namen »3. Bezirk«. Auf ihrer Sitzung am 28. März 2001 beschloss die BVV, den Bezirk übergangsweise mit dem Bandwurmnamen »3. Prenzlauer Berg, Weißensee und Pankow von Berlin« zu bezeichnen. Die Verwirrung wird dadurch komplett, dass aus praktischen Gründen (Ausstellung von Ausweisen, Anfertigung von Briefbögen, Stempeln und Schildern) »bis auf weiteres«

auch Pankow als Name für den Großbezirk verwendet werden darf. Die 2. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts erklärte im Juni 2001 gegen eine Klage der CDU-Fraktion, dass der von der BVV gewählte Bandwurmname rechtens sei. In anderen Fusionsbezirken gab es um die Bezirksnamen vergleichsweise weniger Aufregung. Über endgültige Bezeichnungen wird weiterhin nachgedacht. Eine Nummerierung halten einige neue Bezirke ebenso für denkbar wie Namensverkürzungen, etwa wie im Falle von Mitte-Tiergarten-Wedding auf »Mitte« oder Lichtenberg-Hohenschönhausen auf »Lichtenberg«.

»Maxima« und »Minima« haben sich verschoben

Unbeschadet aller Mängel und Querelen wachsen die neuen Bezirke zusammen. Vieles wird dabei zur neuen Realität in Berlin, an vieles müssen sich die Berliner erst noch gewöhnen. Die neuen Bezirke haben unbestritten das »innere Gesicht« Berlins verändert. Die statistischen Daten (Quelle: Statistisches Landesamt) sind neu gemischt worden. Die »Maxima« und »Minima« haben sich durch die Fusionen verschoben. Flächengrößte Bezirke sind nun (Stand: 2000) Treptow-Köpenick (16 842 ha), Pankow (10 301 ha) und Steglitz-Zehlendorf (10 250 ha), kleinste Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg (2 016 ha), Mitte (3 947 ha) und Neukölln (4 493 ha).

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Nach der Einwohnerzahl liegen nun (Stand: Ende Juli 2000) Tempelhof-Schöneberg (338 092), Pankow (334 879) und Mitte (320 329) an der Spitze, Spandau (223 663), Treptow-Köpenick (230 212) und Reinickendorf (246 418) am Ende. Die höchste Einwohnerdichte verzeichnen nun (Stand: Ende Juli 2000) Friedrichshain-Kreuzberg (123,5 Einwohner je ha), Mitte (81,2) und Neukölln (68,2), die niedrigste Treptow-Köpenick (13,7), Spandau (24,3) und Reinickendorf (27,5). Plus- und Minusrekorde in allen Bereichen wechselten die Bezirke. Treptow-Köpenick hat nun die meisten Ortsteile (15), Neukölln die meisten Arbeitslosen (31 480 - diese und folgende Daten für 1999), der Regierungsbezirk Mitte die höchste Zahl von Sozialhilfeempfängern (43 983), aber auch die meisten Kita-Plätze (15 762) und Kinderspielplätze in öffentlichen Anlagen (215), Hotel-Übernachtungen (2,8 Mill.) und Straßenverkehrsunfälle (22 109). Die wenigsten Sozialhilfeempfänger registriert Treptow-Köpenick (8 285), die kleinste nutzbare Spielplatzfläche je Kind Reinickendorf (2,5 m²). Die besten Verdiener wohnen in Steglitz-Zehlendorf: 87 300 haben Einkommen von 3 000 und mehr Mark (netto) monatlich. Die meisten Senioren-Freizeitstätten (24) hingegen verzeichnet Friedrichshain-Kreuzberg, die höchste durchschnittliche Wohnungsgröße hat Steglitz-Zehlendorf (79,9 m²), die kleinste Lichtenberg (62,6 m²). Treptow-Köpenick ist der Bezirk mit dem größten Anteil von Einwohnern mit allgemeinem Schulabschluss (79,9 Prozent), Spandau der mit dem niedrigsten (69,3 Prozent). Die meisten Gymnasien (je 14) haben Charlottenburg-Wilmersdorf und Steglitz-Zehlendorf, die wenigsten (5) Spandau. Pankow hat die höchste Zahl (83) von Jugendfreizeitheimen - aber leider auch die meisten Unfalltoten im Straßenverkehr (17), dagegen Marzahn-Hellersdorf die wenigsten (2). Die höchste Zahl von Kraftfahrzeugen pro Einwohner (493,5 je 1 000) vermeldet Steglitz-Zehlendorf, die niedrigste Friedrichshain-Kreuzberg (326,3 je 1 000). Über die meisten Wälder (6 819 ha) und Freibäder (7) verfügt Treptow-Köpenick, die meisten Brücken (145) hat Charlottenburg-Wilmersdorf, die meisten Hunde (10 983) Reinickendorf usw. usf.
     »So ist die Bezirksreform nicht nur ein Verwaltungsakt, sie ist ein tiefer Schnitt in die Berliner Seele«. Das hatte die »Berliner Zeitung« am 26. Juni 1997 geschrieben. Auch mehr als vier Jahre danach wird dem keiner widersprechen wollen.

Bildquelle: H. Schwenk: Berliner Stadtentwicklung von A-Z, 3. Auflage, Berlin 2001, S. 289

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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