105   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Nächstes Blatt
Wer erbt, der muss auch zahlen

Thomas Kuczynski zum Entschädigungsanspruch von Zwangsarbeitern

Um den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeit im »Dritten Reich« gab es monatelanges Tauziehen, ehe sich Bundesregierung und Vertreter der Opferanwälte auf zehn Milliarden DM einigen konnten. Sie haben im Auftrag von Opferanwälten ein Gutachten angefertigt, das von einer sehr viel höheren Entschädigungssumme ausgeht, von 180 Milliarden DM nämlich. Wie wurden die zehn Milliarden errechnet?
     Thomas Kuczynski: Die zehn Milliarden sind überhaupt nicht errechnet, sondern verhandelt worden. Am Anfang der Verhandlungen haben die Opferanwälte eine Schätzung von 36 Milliarden Dollar vorgetragen, das waren nach den damaligen Kursen etwa 65 bis 70 Milliarden DM. Dann sind sie mit ihren Forderungen sukzessive heruntergegangen. Auf der Gegenseite war zunächst von zwei Milliarden die Rede, eine Milliarde vom Staat, eine Milliarde von der Industrie, dann hat man sich langsam etwas nach oben bewegt. Ich denke, zehn Milliarden, das ist die Summe, bei der keine der beiden Seiten ihr Gesicht verloren hat.

Und wie ist der Gutachter Kuczynski vorgegangen?
     Thomas Kuczynski: Die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen wandte sich an mich, und ich fand, dass es möglich sein müsste, die Sache aus den überlieferten Statistiken zu berechnen. Erstens ging es um die Zahl der Zwangsarbeiter, ein großes Problem dabei war natürlich die Zahl der in der Industrie eingesetzten KZ- Häftlinge. Das Zweite war, sich zu fragen, wie viel ein deutscher Arbeiter im Schnitt damals verdient hat, aufgegliedert nach den großen Wirtschaftsbereichen. Drittens musste festgestellt werden, welche Zahlungen an die Zwangsarbeiter erfolgt sind und welche Kosten entstanden sind. So haben KZ- Häftlinge so genannte Überlassungsgebühren gekostet, die die Industrie an die SS zu zahlen hatte, dann die Unterbringung, die Ernährung usw.
     Bei den verschiedenen Arten der so genannten Fremdarbeiter waren Lohnabsenkungen zu berücksichtigen, erhöhte Steuerzahlung usw., das war aus der Statistik zu ersehen. Es gibt darüber hinaus natürlich eine Vielzahl von Einzelbeispielen die dann auch zeigen, dass das Gutachten sozusagen am unteren Rand angesiedelt ist. Der Gutachter muss ja zunächst einmal auch im Sinne des alten Rechtsgrundsatzes »in dubio pro reo« verfahren. Im Zweifelsfalle muss also der niedrigere Schuldsatz angenommen werden.
BlattanfangNächstes Blatt

   106   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Voriges BlattNächstes Blatt
Deshalb habe ich nicht die einzelnen Beispiele, die es ja zuhauf gibt, hoch gerechnet. Ich bin von oben gekommen, von der makroökonomischen Ebene und habe die Gesamtzahlen betrachtet.

Ihr Gutachten ist jetzt in »1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts« nachzulesen. In der Vorbemerkung betonen Sie ausdrücklich: »Wären die Lohnkosten für Zwangsarbeitskräfte so hoch gewesen wie die für deutsche Zivilarbeitskräfte, so bestünde kein Entschädigungsanspruch.« Es geht in dem Gutachten also nicht um die historisch- moralische Verantwortung, sondern um die Untersuchung der - wie Sie es nennen - Hehlergewinne. Wie erklären Sie das?
     Thomas Kuczynski: Erstens sind diese Zwangsarbeitskräfte völlig völkerrechtswidrig nach Deutschland zwangsverpflichtet worden, die Kriegsgefangenen sind entgegen den Bestimmungen des Hager Abkommens in der Rüstungsindustrie eingesetzt worden. Kriegsgefangene durften ja durchaus vom Feind, in dessen Hände sie gefallen sind, auch für Arbeiten eingesetzt werden, aber es dürfen keine Arbeiten in der Rüstungsindustrie sein.
     Das andere ist, dass durch die Minderbezahlung infolge der so genannten sozialen Sonderrechte, die in Wahrheit natürlich ein Unrecht besonders unsozialer Art gewesen sind, Gleichheitsgrundsätze verletzt wurden, von denen die Industrie profitiert hat. Ich sage nicht, dass die Industrie selbst die Arbeitskräfte zwangsverpflichtet hat, - das wäre natürlich unmittelbar strafbar.

Aber sie hat aus den strafbaren Handlungen ihrer Regierung ihren Gewinn gezogen. Und das ist juristisch betrachtet ein Hehlergewinn. Das ist so, als wenn ich ein Diebesgut, von dem ich weiß, dass es Diebesgut ist, verkaufe. Das ist ein Hehlergewinn, obwohl ich die Sachen nicht selbst gestohlen habe.

In Ihrem Gutachten haben Sie unterschiedliche Kategorien der geleisteten Zwangsarbeit analysiert. Warum war das notwendig?
     Thomas Kuczynski: Ich musste das tun, weil eben in ganz unterschiedlicher Weise Abzüge vorgenommen wurden. Um es einmal an einem sehr simplen Beispiel zu zeigen: Der westeuropäische Zwangsarbeiter hatte einen zwar im unteren Bereich der Tariflohnskala angesiedelten Lohn, aber es war Tariflohn, auf den er 15 Prozent Steuern zu zahlen hatte, wie der deutsche Arbeiter auch. Bei einem polnischen Zwangsarbeiter gab es die so genannte soziale Ausgleichsabgabe, dadurch erhöhte sich der Steuersatz auf 30 Prozent. Bei den so genannten Ostarbeitern wurde weder die eine noch die andere Steuerart gezahlt, sondern es gab die Ostarbeiterabgabe, die im Schnitt bei etwa 45 Prozent gelegen hat. Das muss natürlich alles berücksichtigt werden, um die Hehlergewinne näher klassifizieren zu können. Andererseits aber habe ich in dem Gutachten ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass ich persönlich nicht dafür bin, diese unterschiedlichen Kategorien in die Gegenwart zu transportieren in dem Sinne, dass unterschiedliche Entschädigungen zu zahlen wären.

BlattanfangNächstes Blatt

   107   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Voriges BlattNächstes Blatt
Ich bin ein Vertreter der Linie gewesen, die gesagt hat, es mögen keine Unterschiede gemacht werden, es möge nicht das passieren, was vor 60 Jahren praktiziert worden ist, heute leider auch und zum Teil mit Erfolg, nämlich, die verschiedenen Kategorien gegeneinander auszuspielen.

Von welchem Personenkreis ist denn dabei die Rede?
     Thomas Kuczynski: Von erstens den KZ- Häftlingen, zweitens den Kriegsgefangenen, unterschieden nach den sowjetischen und den


Zwangsarbeiterinnen aus den von deutscher Wehrmacht besetzten Gebieten der Sowjetunion treffen in Berlin ein
übrigen, weil die sowjetischen vom Gesetzgeber her noch viel schlechter behandelt worden sind, und schließlich drittens den zivilen Zwangsarbeitern: die so genannten Ostarbeiter, die polnischen Arbeiter, die deutsch- jüdischen Zwangsarbeiter und andere.
     Wobei ich natürlich sagen muss - das ist auch in dem Gutachten zum Ausdruck gebracht - , dass nicht jeder Ausländer, der in dieser Zeit in Deutschland gearbeitet hat, Zwangsarbeiter gewesen ist. Da gibt es ganz klare Unterscheidungen.
14 bis 15 Millionen Menschen waren es, die, natürlich nicht gleichzeitig, Zwangsarbeit leisten mussten. Wer hat nun den Hehlergewinn eingestrichen?
     Thomas Kuczynski: Zunächst einmal ist davon auszugehen, das war ja der Ausgangspunkt meiner Rechnung, wie viel hätten deutsche Zivilarbeitskräfte in dieser Zeit gekostet. Das wären etwas über 36 Milliarden Reichsmark gewesen. Die Zwangsarbeiter haben aber nur etwas über 20 Milliarden Reichsmark gekostet.
BlattanfangNächstes Blatt

   108   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Voriges BlattNächstes Blatt
Also ist ein Gesamtgewinn von über 16 Milliarden Reichsmark zu verzeichnen. Dieser Gewinn teilt sich auf. Einerseits die Staatskasse und die Versicherungskonzerne, die den bedeutendsten Teil der Steuern eingenommen haben, respektive der Versicherungssummen, es musste ja auch Rentenversicherung gezahlt werden, auch Krankenversicherung, wovon die Leute so gut wie nichts hatten. Bei der Krankenversicherung gab es ja vielleicht auch Fälle, wo Leute dann während der Krankheit eine gewisse Lohnzahlung erhielten. Bei den Renten ist es völlig klar: Kein ausländischer Zwangsarbeiter hat eine Rente in Deutschland bezogen.
     Dann gibt es die staatlichen Unternehmen, wie z. B. die Reichsbahn, die Hermann-Göring- Werke, heute Salzgitter, die SS- Betriebe, die Baubetriebe der SS, das ist eine zweite Gruppe. Dann haben wir die privaten Industriekonzerne, also IG Farben, AEG, Siemens und wie sie alle heißen, die landwirtschaftlichen Betriebe, denn viele, gerade der polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, sind ja in der Landwirtschaft eingesetzt gewesen ebenso wie zunächst einmal eine ganze Anzahl Kriegsgefangener. Dann gibt es noch den Bereich, zwischen Industrie und Landwirtschaft angesiedelt, das geht vom Versicherungsangestellten bis zum Hausmädchen. Deshalb kann ja auch niemand sagen, es seien nur die großen Konzerne gewesen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Ich kann nur wiederholen, was ein Kollege von der Universität Freiburg, Ulrich Herbert, gesagt hat: »Wir sind immer noch auf der Suche nach der Firma in Deutschland, die keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat.«
Arbeitslager gab es in jeder Stadt, die gab es an jeder Ecke in einer Großstadt wie Berlin z. B., das war überhaupt nicht zu übersehen, das gehörte mit zum Stadtbild.

In dem Gutachten sind Sie zu der Feststellung gelangt, dass den Zwangsarbeitern Löhne in Höhe von 16,230 Milliarden Reichsmark vorenthalten wurden. Wie kann diese Summe nun in DM umgerechnet werden, in der ja entschädigt werden soll?
     Thomas Kuczynski: Zunächst eine einfache Vergleichszahl: Der Entschädigungsanspruch eines Arbeiters bei Daimler- Benz für eineinhalb Jahre betrüge nach den Lohnkalkulationen, die im Archiv vorhanden sind, 2 100 Reichsmark. Für 2 100 Mark arbeitet bei Daimler- Crysler heute keiner auch nur einen Monat. Das heißt, eine Umrechnung von 1:1 geht nicht. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Das eine ist, man guckt sich die Lohnentwicklung an und stellt fest, der so genannte Brutto- Wochenlohn laut statistischem Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland ist 1998 fast 22-mal so hoch wie 1940-44. Das heißt, man müsste diese Summe von 16,23 Milliarden mit 22 multiplizieren,. Dann kommt man etwa auf 350 bis 360 Milliarden DM. Die andere Variante: man nimmt den Lebenshaltungskostenindex. Der ist 5,6-mal so hoch und man kommt dann auf eine Summe von 91,4 Milliarden DM.
     Diese beiden Möglichkeiten gibt es und sie haben beide ihre gravierenden Nachteile. Wenn ich nach dem heutigen Lohnsatz gehe, dann ignoriere ich natürlich völlig, dass sich der Lebensstandard in den letzten 50 Jahren unglaublich erhöht hat.

BlattanfangNächstes Blatt

   109   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Voriges BlattNächstes Blatt
Das heißt, ich würde den gesamten Gegenwartsstandard in den Krieg zurück transponieren. Das geht natürlich nicht. Wenn ich aber nur von den Lebenshaltungskosten ausgehe, dann würde ich die Leute heute so entschädigen, als hätte es überhaupt keine Entwicklung des Lebensstandards gegeben. Ich würde sie nach dem Kriegsstandard entschädigen. Und dabei bliebe noch unberücksichtigt, dass ja mit diesem Hehlergewinn über 50 Jahre lang höchst profitabel gearbeitet worden ist. Deshalb habe ich als Kompromissvariante vorgeschlagen den Kriegsstandard doppelt so stark zu gewichten wie den Friedensstandard, dann kommt man auf einen Umrechnungsfaktor von faktisch 1:11,1. Das ergibt dann die 180,5 Milliarden DM von denen in meinem Gutachten die Rede ist.
     Dabei bleibt noch die Frage nach den Zinsen völlig unberücksichtigt, die man nach BGB und allgemeinem Deutschen Schuldrecht natürlich stellen kann. Wenn man das über 55 Jahre zum gängigen Zinssatz von vier Prozent verzinst, dann kommt man auf das neunfache. Ich habe das den Juristen überlassen, weil das keine Frage an den Statistiker ist. Es gibt natürlich auch Leute, die auf die Abwertung der Reichsmark 1:10 hinweisen. Wer das tun will, bitteschön. Da kommen dann genau die Zinsen dazu und somit gleicht sich das wieder aus.
Sie sagen, wer erbt, muss Steuern zahlen, also auch Steuern für das furchtbarste Erbe deutscher Geschichte. Um die Zahlungsmoral ist es aber wohl nicht zum Besten bestellt, schließlich hat die Industrie von den übernommenen fünf Milliarden Ende Juli erst rund drei Milliarden in den Stiftungsfonds eingebracht. Was halten Sie von dem Vorschlag, alle Deutschen sollten sich mit 20 Mark beteiligen?
     Thomas Kuczynski: Da kann ich Ihnen nur mit dem Historiker Wolfgang Benz antworten,: »Die Leute werden sich belästigt fühlen«. Und außerdem: bei 30 Millionen Erwerbstätigen kommt man auf 600 Millionen, es reicht also immer noch nicht. Das wichtigste aber: Das ist genau der Ablasshandel, der zu Renaissancezeiten usus gewesen ist unter dem schönen Motto »Die Münze in dem Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt«,- ich habe meine 20 Mark gezahlt, und nun bin ich frei.
     Dies eine Promille vom jährlichen Umsatz, das ja die Stiftungsinitiative von den beitrittswilligen Unternehmen verlangt, ist nicht vergleichbar mit 20 Mark. Das ist vergleichbar damit, dass wir beide jeden Monat ein Jahr lang auf ein Glas Bier und eine Tasse Kaffee verzichten. Das ist also eine unerhörte Leistung, die dort der Industrie abverlangt wird.
BlattanfangNächstes Blatt

   110   Berliner Gespräche Zwangsarbeiter-Entschädigung  Voriges BlattArtikelanfang
In Österreich sind von der Regierungsseite immerhin 0,2 Prozent verlangt worden und nicht 0,1 Prozent wie bei uns. Das andere ist, die 180 Milliarden einmal ins Verhältnis zu setzen z. B. zu den 400 Milliarden die für den Kauf von Mannesmann gezahlt worden sind. Und das ist etwa dieselbe Summe, die heute den amerikanischen Tabakkonzernen ins Haus steht als Strafandrohung. Das zeigt auch, warum die Industrie überhaupt zahlungswillig ist hier zu Lande. Sie hatte Angst vor diesen Sammelklagen in den USA, auf die ja nun auch verzichtet worden ist.
     Wenn ich ein Haus erbe, dann kann ich dieses Erbe ausschlagen oder ich kann es annehmen. Aber ich kann nicht sagen, ich nehme das Erbe an, wohne in dem Haus, aber die Hypotheken, die darauf liegen, die zahle ich nicht ab, das ist nicht mein Problem. Damit ist die Situation in Deutschland vergleichbar: Wir haben nun einmal dieses Haus geerbt, und wir haben die Hypotheken zu zahlen.

Welche Reaktionen gab es auf Ihr Gutachten, das ja Ende vorigen Jahres vorlag?
     Thomas Kuczynski: Die Anwälte scheinen damit zumindest in dem Sinne zufrieden gewesen zu sein, dass sie es überhaupt in die Debatte gebracht haben. So weit ich weiß, war es wohl nicht ganz einfach, dieses Gutachten überhaupt in die Bundespressekonferenz einzubringen und damit in die Verhandlungen.

Was ich danach gehört habe, war erst einmal die Feststellung von Herrn Lambsdorff , die Zahl sei unseriös. Das hat er allerdings nie wiederholt.
     Ich habe mit der Gesamtzahl der Opfer gerechnet, leider ist in den Verhandlungen, auch von der Opferseite aus, immer nur über die Überlebenden geredet worden. Ich kann das verstehen in dem Sinne, dass für sie noch etwas getan werden kann. Aber verstehen ist verstehen, und verzeihen ist verzeihen.
     Die Zunft der deutschen Historikerinnen und Historiker hat sich in dieser Angelegenheit ja vollständig bedeckt gehalten. Von manchen war zu hören: »Wie kann denn Herr Kuczynski unserer Regierung so in den Rücken fallen?«. Damit muss man leben.

Das Gespräch führte Jutta Arnold

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
www.berlinische-monatsschrift.de