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Rainer Sandvoß
In Berlin gab es auch Widerstand

War Berlin die NS- Hochburg? Die Rolle Berlins zwischen 1933 und 1945 ist noch immer umstritten und gibt wiederholt Anlass zu bewegtem Streit: Viele von uns mögen sich vielleicht noch daran erinnern, dass zu Beginn der 90er Jahre die Debatte darüber geführt wurde, ob Berlin die geignete Hauptstadt wäre, ein wiedervereinigtes, friedliebendes und demokratisches Deutschland zu repräsentieren. Manchen Kritikern galt gerade Berlin als die Hochburg des Nationalsozialismus.
     Nun ist es unbestreitbar, dass Berlin als deutsche Hauptstadt zwischen 1933 und 1945 die Zentrale der NS- Herrschaft und der Mittelpunkt der Diktatur war: Regierungszentrum, Sitz der Reichsministerien, des Reichssicherheitshauptamtes der SS in der gefürchteten Prinz-Albrecht- Straße, der Gestapo und des Volksgerichtshofs; die Planung des Weltkrieges und des Massenmordes an den Juden Europas sowie an den Sinti und Roma, der Versklavungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die slawischen Völker, ja der Versuch, ganz Europa zu beherrschen - all dies ging von Berlin aus.

Vielen Beobachtern galt zudem die im Februar 1943 im Berliner Sportpalast inszenierte Großveranstaltung der NSDAP, bei der der Propagandachef Joseph Goebbels auf die Frage »Wollt ihr den totalen Krieg?« fanatischen Zuspruch erhielt, als eine spontane Kundgebung der Berliner Bevölkerung. Doch sollten demgegenüber folgende Tatsachen nicht aus dem Auge verloren werden:
     - Hitlers Wahnideen und die seiner Führungsgruppe waren bereits vor 1933 in großen Zügen entwickelt worden und entstanden nicht erst in Berlin.
     - Die führenden Nationalsozialisten Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Julius Streicher, Rudolf Heß, aber auch »Ausführende« wie Reinhard Heydrich, Ernst Kaltenbrunner, Adolf Eichmann oder Dr. Josef Mengele waren von Herkunft keine Berliner. Die NS- Bewegung ging ursprünglich nicht aus Berlin- Brandenburg hervor - eigentlich nicht einmal aus dem Preußischen, betont Sebastian Haffner - sondern eher aus dem Süddeutschen und Österreichischen, der Heimat vieler SS- Führer.
     - Abstimmungen bis 1933 zeigen, dass die Wahlhochburgen der NSDAP vorwiegend in ländlichen und in protestantischen Teilen Deutschlands lagen, nämlich in Ostpreußen, Pommern, Schleswig- Holstein und Franken.
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Sowohl das katholische Rheinland als auch die Reichshauptstadt lagen dahinter weit zurück: Während bei der schon nicht mehr völlig demokratischen Reichstagswahl im März 1933 die NSDAP im Reichsdurchschnitt 43,9 Prozent der Stimmen erhielt, waren es in Ostpreußen 56,5 Prozent und in Pommern 56,3 Prozent. Demgegenüber erzielte die Hitler- Bewegung im Wahlkreis Berlin nur 31,3 Prozent und im Wahlkreis Köln- Aachen lediglich 30,1 Prozent der Stimmen.
     Diese Argumente sollen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalsozialismus auch in unserer Stadt eine gewaltige und gewalttätige Anhängerschaft fand. Mehrere Zeitzeugen berichten wiederholt von dem enormen Tempo, in dem sich damals der Prozess der »NS- Machtergreifung« vollzog. (Thomas Mann sprach in diesem Zusammenhang von »schauerlicher Rasanz«). Schon im Frühjahr 1933 wurden Andersdenkende auf der Straße zusammengeschlagen, wenn sie sich weigerten, die Fahne eines vorbeiziehenden SA-Trupps zu grüßen. Ein Berliner Arbeitersportler, dem bei einem solchen Anlass ein Auge ausgeschlagen wurde, beschrieb die abrupte Daseinsveränderung mit den Worten: »Da wusste man gleich, wer der neue Herr ist!«
     Doch auch der Gesamtorganismus der Stadt Berlin wies vor 1933 Unterschiede zwischen den einzelnen Bezirken und Vierteln auf. Die NSDAP fand vornehmlich in jenen Stadtteilen regen Zuspruch, die wie Friedenau und Steglitz stark von Mittelstand, Beamtenschaft und Pensionären geprägt waren,
oder die wie Spandau eine dominante militärische Tradition aufwiesen. Auch dort, wo Besserverdienende zu Hause waren, wie in Frohnau und Karlshorst, erstarkte die NSDAP. Demgegenüber schnitt die NS- Bewegung in den traditionellen Hochburgen der Berliner Arbeiterbewegung im Norden der Stadt (Wedding, Prenzlauer Berg) oder im Berliner Osten (Friedrichshain, Lichtenberg), längst nicht so gut ab. Obwohl im proletarischen Neukölln bereits 1932 immerhin 25 Prozent für die NSDAP stimmten, muss hervorgehoben werden, dass bei der Reichstagswahl im März 1933 in Lichtenberg nur 32,7 Prozent und in Friedrichshain 28,9 Prozent für den Rechtsextremismus votierten. Damit war selbst der sogenannte »Rote Berliner Osten« in sich noch differenziert: Friedrichshain mit einem höheren Arbeiter- und Arbeitslosenanteil lag knapp 4 Prozent unter dem NSDAP- Ergebnis von Lichtenberg!
     Aufgrund der intensiven Forschungen des Politologen Jürgen W. Falter wissen wir heute, dass die Arbeitslosen der frühen dreißiger Jahre keineswegs häufiger die NSDAP wählten als der Bevölkerungsdurchschnitt. Im Gegenteil: Arbeitslose Berliner Arbeiter tendierten eher dazu, die KPD zu wählen, was insbesondere am Wahlverhalten in den Bezirken Wedding und Friedrichshain erkennbar ist. In stärkerem Maße als heute lässt sich das damalige Wahlverhalten auf langfristige Bindungen der Wähler zurückführen, die ganz unterschiedlich von Traditionen, Wertbezügen und dem kulturellen Milieu bestimmt waren.
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Gerade Berlin - als politischer und kultureller Schwerpunkt der Weimarer Republik - wies eine ganz besondere Prägung aus liberalem Bürgertum, jüdischer Geistigkeit, preußischer Aristokratie- und Beamtentradition und nicht zuletzt freiheitlicher Arbeiterbewegung auf. Das ganz eigene politische Klima der Stadt blieb in Teilen auch noch nach 1933 bestehen. Dies belegen nicht allein die Aussagen Berliner NS-Gegner, sondern auch die ausländischer Zeitzeugen. So hebt George F. Kennan, von 1939 bis 1941 Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in der Reichshauptstadt, in seinen Erinnerungen hervor, wie schwer sich die Berliner in dieser Zeit mit dem Hitler- Gruß taten und wie mürrisch bzw. ablehnend sie auf den Kriegsbeginn und seinen »siegreichen« Verlauf reagierten.
     Hitler, der sich bekanntlich nicht gern in Berlin aufhielt, sondern den Obersalzberg sowie diverse »Führerhauptquartiere« vorzog, fand in der Hauptstadt Deutschlands kein willfähriges Publikum. Das zeigte sich auch bei den Pogromen am 9. und 10. November 1938: Dem tobenden nazistischen Mob stand das schweigende Entsetzen vieler gegenüber.
     Auch das vor einigen Jahren veröffentlichte Tagebuch des Dresdener Romanisten Victor Klemperer belegt, dass der »rassisch« verfolgte Wissenschaftler eine Autofahrt nach Berlin bzw. durch Berlin (im Mai 1937) als große geistige Wohltat und Kraftquelle im moralischen Sinne empfand, da zum Beispiel der Hitler- Gruß
hier eher die Ausnahme als die Regel war.
     »Man kann sich tagelang in der Stadt aufhalten, ohne den deutschen Gruß zu hören ...«, musste selbst die Gestapo in einem ihrer »Stimmungsberichte« im Winter 1936 feststellen.

Berlin als Zentrum des Widerstandes

Unabhängig von den Beobachtungen kritischer Zeitzeugen können auch folgende Fakten angeführt werden:
     - Zwischen 8 000 und 10 000 Berliner - überwiegend Funktionäre und Anhänger der unterdrückten Arbeiterbewegung - saßen aus politischen Gründen für kürzere oder längere Zeit in den Haftanstalten und in den Folterhöllen der SA und SS ein.
     - In der Stadt ereigneten sich wiederholt Beispiele demonstrativer Gegnerschaft: So kamen Mitte 1936 etwa 6 000 Menschen aus allen Teilen Berlins in Baumschulenweg zu einer Trauerfeier für die verfolgte Sozialdemokratin Clara Bohm-Schuch zusammen. Und noch 1942, im dritten Kriegsjahr, fanden sich mindestens 1 000 Menschen - darunter Sozialdemokraten in Wehrmachtsuniformen - am selben Ort ein, um vom früheren Vorsitzenden der Berliner SPD Franz Künstler in Form einer »Demonstrations- Beerdigung« Abschied zu nehmen. Der Sozialdemokrat war an den Folgen seiner KZ-Haft und der schweren Zwangsarbeit ums Leben gekommen.

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Protestkundgebung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold gegen die Regierung Hitler am 19. Februar 1933 im Berliner Lustgarten
- Auch die Verfolgung der Juden fand keine ungeteilte Zustimmung in der Stadt, geschweige denn ein alle erfassender »eliminatorischen Antisemitismus«, den der amerikanische Wissenschaftler Daniel Goldhagen pauschal in Deutschland festzumachen glaubte. So fanden sich im März 1943 im Berliner Stadtzentrum, in der Rosenstraße, etwa 1 000 nichtjüdische Menschen - vorwiegend Ehefrauen - ein, um über mehrere Tage öffentlich die Freilassung dort inhaftierter jüdischer Männer bzw. Ehegatten einzufordern. Und sie hatten tatsächlich Erfolg.
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Ein in Deutschland wohl einmaliger Fall. Etwa 1 200 bis 1 400 von insgesamt etwa 5 000 untergetauchten Juden war es gelungen, sich illegal in Verstecken dem Massenmord zu entziehen, dem allein in Berlin über 50 000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Ein Überleben war nur möglich, weil mindestens 1 000 Nicht-Juden - manche Quellen nennen das Siebenfache - diesen Menschen unter Missachtung der eigenen Gefahr, in die sie sich begaben, Hilfe leisteten. Auch wenn es sich in einer Stadt von über 4 Millionen Einwohnern dabei gewiss nur um eine Minderheit Couragierter handelte, so bleibt die Zahl der Berliner Helfer doch beeindruckend und sucht in Hitler- Deutschland ihresgleichen.

Opposition aus der Arbeiterschaft

Gerade in der frühen Phase der »nationalsozialistischen Revolution« - die wohl eher eine Gegenrevolution zum 9. November 1918 war - richtete sich der NS-Terror besonders gegen oppositionelle Arbeiterkreise, von denen über tausend Funktionäre bereits in der Reichstags- Brandnacht verschleppt wurden. Unzählige verschwanden in Lagern der SA und litten Unsägliches. Die Zahl der im Frühjahr 1933 Ermordeten steht bis heute nicht fest.

Offenbar fürchtete die NSDAP - trotz vieler »Überläufer« - von der politischen Linken noch den stärksten Widerstand und der sollte sofort im Keim erstickt werden (»Köpenicker Blutwoche«). Doch nach und nach regten sich seit Mitte des Jahres lokale Initiativen, die treue Anhänger sammelten, Spendengelder zusammentrugen und antifaschistische Parolen und Flugschriften verbreiteten, in denen zum Sturz des Regimes aufgerufen wurde.
     Bereits im Herbst des Jahres setzten erste Verhaftungswellen ein. Hunderte von Arbeitern und Gewerkschaftern gerieten in Haft. Die Zentren des Berliner Arbeiterwiderstandes lagen zwischen 1933 und 1935/36 vor allem in den proletarischen Wohnquartieren des Nordens und Ostens der Stadt, aber auch in Neukölln sowie in Armeleute- Vierteln von Mitte, Kreuzberg (SO 36), Schöneberg, Moabit und Charlottenburg.
     Werfen wir zunächst einen Blick auf die KPD: Mit Ausnahme des Unterbezirks Adlershof wurden bis zur Mitte der 30er Jahre fast alle kommunistischen Unterbezirke (Wohngebietsprinzip) zerschlagen. Unterlagen der NS- Justiz zufolge zog man damals weit über 1 000 Menschen zur Verantwortung; die jeweilige Unterbezirks- Leitung klagte der Volksgerichtshof an, Massenprozesse vor dem Kammergericht verurteilten mittlere und untere Funktionäre sowie Minderbelastete.
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In den Unterbezirken des Nordostens, Prenzlauer Berg und Weißensee, waren fast 400 Menschen betroffen, in Berlin-O, Friedrichshain und Lichtenberg, über 250, in Mitte über 200, 130 waren es in SO 36 (Kreuzberg), über 50 im Unterbezirks Steglitz (Zehlendorf), knapp 60 in Reinickendorf und 40 selbst in Charlottenburg.
     In Betrieben konnte die KPD nur dann erfolgreich wirken, wenn ihre Vertreter undogmatische Funktionäre waren, so Max Frenzel in Moabit oder Heinz Brandt bei Siemens,

Polizeirazzia in einer roten Laubenkolonie im Berliner Norden
die beide zur sog. Versöhnler- Fraktion zählten. Aufgrund weitreichender Verhaftungen bis 1936 konnte eine Reorganisation der illegalen KPD in der zweiten Hälfte der 30er Jahre nicht mehr auf der Unterbezirksebene, sondern nur im gesamtstädtischen Rahmen erfolgen. Ab 1938 bemühte sich der politisch vorbestrafte Robert Uhrig darum, eine handlungsfähige Organisation auf Betriebszellenbasis zu errichten und dabei auch Parteilose und Sozialdemokraten heranzuziehen. (Die verstärkte Facharbeiternachfrage sorgte dafür, dass auch das große Heer stellungslos gewordener Kommunisten wieder zurück an die Werkbänke kam.)
     Im Zentrum der illegalen Arbeit standen die Antikriegspropaganda und der Aufruf zur Sabotage. Doch Fehler im konspirativen Vorgehen erleichterten mehreren Gestapo- Spitzeln ihr Handwerk: Seit Februar 1942 wurden Hunderte verhaftet, 78 Menschen verloren ihr Leben. Reste der Uhrig- Gruppe gingen 1942 in der Schulze-Boysen/ Harnack- Organisation (»Rote Kapelle«) bzw. 1943 in der von Saefkow und Jacob auf. Die Zerschlagung des letztgenannten Kreises kostete noch einmal 90 Menschen das Leben, die meisten davon waren Berliner Arbeiter.
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Wenn die KPD- Anhänger auch die mit Abstand zahlenstärkste Gruppe des Arbeiterwiderstandes darstellten - was zunächst noch nichts über den Grad ihrer Wirkung besagt -, so kommt ihnen doch kein Monopol zu. Sozialdemokratische, sozialistische und unabhängige kommunistische Untergrundkreise (Trotzkisten, Leninbund, KPO) waren ebenfalls sehr aktiv und versuchten auch ihrerseits, durch Zusammenkünfte und illegale Propaganda zur Aufklärung der Bevölkerung und zum Sturz der Diktatur beizutragen.
     In Gerichtsverfahren gegen die meist jungen Anhänger von SPD, Reichsbanner, ISK, Neu Beginnen, SAP, Rote Kämpfer, Roter Stoßtrupp oder die »Parole« (Neukölln) wurden bis 1936 annähernd vierhundert Oppositionelle verurteilt. Ein Beispiel mag das hohe Engagement auch der kleinen Gruppen verdeutlichen: Von den etwa 1 300 Mitgliedern, die die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) 1933 in Berlin hatte, gerieten über 100 in Haft, die Hälfte kam vor Gericht, zehn Menschen wurden Opfer der Barbarei.
     Nach der Zerschlagung der illegalen Berliner Bezirksleitungen um Alfred Markwitz (Frühjahr 1935), Alfred Lowack (Januar 1936) und Karl Woyte (Januar 1937/Gruppe »Nordbahn«) unternahmen der Lichtenberger Oskar Debus mit Otto Brass und Dr. Hermann Brill 1937/1938 den letzten großen Versuch der Sammlung sozialdemokratischer Regimegegner. Als »Deutsche Volksfront« -
auch 10 Punkte- Gruppe genannt - schlossen sie sich mit Vertretern von Neu Beginnen (Fritz Erler, Kurt Schmidt) zusammen. Der Verhaftungswelle im Herbst 1938 fielen viele Menschen zum Opfer, es wurden hohe Zuchthausstrafen verhängt. Danach kam es in Berlin - vom Wirken Einzelner abgesehen - nicht mehr zur Bildung einer SPD- nahen Untergrundleitung.
     Nur wenige Getreue hielten im Anschluss an die Kerkerzeit untereinander konspirative Verbindungen aufrecht oder tauschten mit den Exil- Vertretern ihrer Parteien (Prag, Kopenhagen, Paris) Informationen aus. Die überwiegende Mehrheit der gesinnungstreuen Berliner Sozialdemokraten (vor 1933 über 85 000) wählte ohnehin lieber weniger gefährliche Formen des Zusammenhalts: Gesangstreffen, Beerdigungsfeiern, Ausflüge ins Umland und Sportaktivitäten sollten das Weiterleben der alten Ideale verdeutlichen.
     Spätestens mit Kriegsbeginn sahen sich prominente Parteivertreter der SPD nach bürgerlichen bzw. militärischen Bündnispartnern um, da sie den isolierten Widerstand von Arbeitergruppen längst für gescheitert hielten.

Widerstehen aus christlicher Tradition

Auch im Bereich der innerkirchlichen Auseinandersetzung bzw. des Widerstehens aus christlicher Tradition nahm Berlin eine Schlüsselrolle ein.

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In den zentralen Gremien der Deutschen Evangelischen Kirche kämpften die nazistischen Deutschen Christen (DC) für die Durchsetzung des »Führerprinzips« und des »Arierparagraphen«.
     Der Pfarrernotbund, die Keimzelle der sich 1933/34 aus Geistlichen und Laien herausbildenden Bekennenden Kirche, wurde im September 1933 beim Charlottenburger Pfarrer Jacobi gegründet und erhielt in Dahlem, Pastor Martin Niemöllers Wirkungsstätte, seinen reichsweiten Sitz.
     Die im Verhältnis zu den süddeutschen Landeskirchen eher radikalen Anhänger der innerkirchlichen Opposition - der Brandenburger Bruderrat (um Kurt Scharf und Günther Harder), die Spitze der preußischen BK (Niesel, Dibelius, Ehlers) und die sog. 2. Vorläufige Leitung (Albertz, Böhm, Müller) - richteten ihre Geschäftsstellen und Büros in Berlin ein, sie wurden wiederholt von der Gestapo durchsucht und schließlich geschlossen.
     Als der zunehmende antisemitische Terror (Nürnberger Gesetze, Zwangs«arisierung«, Pogrome im November 1938) vielen Juden nur noch die Rettung des Lebens durch die Emigration ließ, waren es das durch die BK initiierte »Büro Grüber« nahe dem Berliner Schloss, das katholische »Hilfswerk« beim Bischöflichen Ordinariat (Dr. Margarete Sommer) in Prenzlauer Berg sowie die Quäker- Zentrale in der Planckstraße in Mitte, die im Verbund mit der Reichsvereinigung der Juden in vorbildlich überkonfensioneller Weise bis 1941 Tausende ins Ausland brachten.
So berechtigt die Kritik festhält, dass die oppositionellen christlichen Kreise den innerkirchlichen Rahmen kaum überschritten, so bleibt es doch eine Tatsache, dass durch die Abwehr der NS- »Gleichschaltung« und die Öffentlichmachung von Schicksalen verhafteter Laien und Pfarrer (»Fürbittelisten«) ein die NS- Ideologie »zersetzender« Einfluss ausgeübt wurde. Viele spätere Verschwörer des 20. Juli 1944 hatten im »Kirchenkampf« ihre ersten negativen Erfahrungen mit dem NS-Regime gesammelt.
     Selbst eine (diesbezüglich) jeder Apologetik unverdächtige Organisation wie die KPD (O) analysierte im November 1934: »Die Kirchenopposition ist die erste offene Massenbewegung gegen den Totalitätsanspruch der faschistischen Diktatur. Sie zeigt, welche Wirkungen eine organisierte Aktion auszulösen vermag und muss die Arbeiter ermuntern, auch ihrerseits ihre Aktionen zu steigern.«
     Wie der Widerstand aus sozialistischer Tradition brachte auch der »Kirchenkampf« große Persönlichkeiten hervor: Berliner wie der Theologe und Vorkämpfer der Bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffer (1945 in Flossenbürg ermordet), der mit oppositionellen Kräften im Amt Abwehr (Oster, Dohnanyi) u. a. an der Rettung von Juden aus dem KZ beteiligt war, oder Dompropst Bernhard Lichtenberg (1943 auf dem Transport ins KZ verstorben), der über Jahre von der Kanzel der St. Hedwigs- Kathedrale für Verfolgte betete, sind Menschen, die weit über ihre lokale Bedeutung hinaus, zu den herausragenden Repräsentanten des »anderen Deutschland« gehören.
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Kreisauer Kreis / 20. Juli 1944

Namhafte deutsche Widerstandsgruppen, die sich gegen die NS- Diktatur und den Krieg richteten, besaßen ihren Ursprung in Berlin:
     So kamen Christen und Sozialisten um die beiden Freunde Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg zu Gesprächen über die künftige Rolle Deutschlands in einem vereinten Europa in Berlin- Lichterfelde (Hortensienstraße 50) zusammen. Aus Sicherheitsgründen wurden einige Grundsatztagungen dann allerdings nach Kreisau verlegt, dort besaß Graf Moltke sein Gut.
     Im Berliner Bendlerblock, wo wichtige Einrichtungen der Wehrmacht ihren Sitz hatten, entwickelten militärische Gegner des Nationalsozialismus im Allgemeinen Heeresamt (General Olbricht) und beim Befehlshaber des Ersatzheeres (Graf Stauffenberg) Pläne zum Sturz der Diktatur und zur Beendigung des Krieges. Die Bendlerstraße in Tiergarten wurde zur Schaltzentrale der Verschwörung am 20. Juli 1944.
     Zu oft wird gerade auf Seiten der Kritiker dieses Vorhabens vergessen, dass die Kräfte, die seit 1943 hinter dem versuchten Staatsstreich standen, aus allen Schichten des Volkes kamen und mehrere prominente

Sozialdemokraten (Leber, Haubach, Reichwein) und Gewerkschafter (Leuschner, Kaiser) dazu zählten. Mit Billigung Stauffenbergs hatten Leber und Reichwein im Vorfeld sogar Kontakt zur Leitung der illegalen KPD (Saefkow, Jacob) aufgenommen, waren dadurch allerdings der Gestapo in die Hände gefallen.
     Was immer man im Rückblick über die Fehler und Halbherzigkeiten der Beteiligten der Verschwörung des 20. Juli 1944 sagen mag, zwei wichtige Tatsachen sollten stets hervorgehoben und gewürdigt werden:
     - Der 20. Juli 1944 war das einzige Ereignis des deutschen Widerstandes, das bisher zersplittete Gruppen - von konservativen bürgerlich- militärischen Kreisen bis hin zu denen der Arbeiteropposition - in einer gemeinsamen Aktion zum Sturz der Diktatur und zur Beendigung des Mordens fand.
     - In den nun folgenden neun Monaten starben bis zur Kapitulation mehr Menschen als in den Kriegsjahren seit 1939. Das Leben der meisten hätte gerettet werden können.

Jugend gegen Zwang und Drill

Junge Menschen waren in vielen Widerstandsgruppen die vorwärtsdrängenden Kräfte und übernahmen schon früh große Verantwortung.

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Man denke dabei nicht allein an bereits erwähnte sozialistische Arbeitergruppen, sondern auch an die »Jungen Brüder« der Bekennenden Kirche und die herausragende Bedeutung jüngerer Offiziere wie von Tresckow, von der Schulenburg und von Stauffenberg.
     Jugendliche widersetzten sich aber auch auf jugendspezifische Weise dem Druck der staatlichen HJ: Ob als Anhänger der Bündischen Jugend, als »Edelweißpiraten«, Mitglieder von Cliquen oder Swingmusik- Freunde ertrotzten sie sich Freiräume,
- zur Monatsmitte waren bereits Warschau und Krakau befreit worden, Ostpreußen und Schlesien rückten nun in greifbare Nähe -, bemühten sich verschiedene illegale Kreise in Berlin darum, die Bevölkerung über die Niederlage des NS- Regimes schonungslos aufzuklären und Verfolgte (Fahnenflüchtige, Juden) zu verstecken.
     Im Norden der Stadt, in Reinickendorf um den Sozialisten Dr. Max Klesse (»Gruppe Mannhart«) und in Prenzlauer Berg/ Pankow um den Kommunisten Gerhard Sredzki,
um ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sei es durch das Singen verbotener Lieder oder das Anhören »undeutscher« Musik, sei es durch länger getragenes Haar oder die Ablehnung zackig- uniformen Auftretens. In den letzten Kriegsmonaten kamen viele Deserteure aus ihren Reihen.

Widerstand am Kriegsende

Als im Januar 1945 die Rote Armee zum Sturm auf die deutsche Reichsgrenze ansetzte


Dahlemer Dorfkirche - Wirkungsstätte von Pfarrer Niemöller
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Illegale Flugblätter (Frühjahr 1945)
wurde mit Flugblattaktionen und Klebezetteln an die Menschen appelliert, nicht den Durchhalteparolen der NS- Fanatiker zu folgen, sondern sich den Zerstörungsbefehlen (Betriebsanlagen und Verkehrswege betreffend) zu widersetzen.
     »Berliner zum Kampf. Rettet was noch verblieben ist! Rettet Berlin! Tod den Hitlerbanditen! Unser das Leben! Unser die Zukunft!«, warnten die Illegalen, doch nur eine Minderheit hörte auf sie.
     Ähnlich Klesse und Sredzki in den nördlichen und östlichen Arbeitervierteln wurden im bürgerlichen Westen und Südwesten die Gruppen »Onkel Emil« und »Ernst«, zu denen zahlreiche Künstler und Intellektuelle zählten, aktiv und setzten den Propagandalügen ihr auf Ruinen und Wände gemaltes NEIN entgegen.
     Wie immer man Erfolge und Misserfolge des Widerstandes in Berlin insgesamt bewerten mag, er half das Leben zahlreicher Verfolgter und Untergetauchter zu retten und bewies, dass Zivilcourage und Humanität auch unter bedrückendsten gesellschaftlichen Bedingungen in der Stadt Anhänger fanden - doch zugegeben, es waren zu wenige.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
www.berlinische-monatsschrift.de