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Bernhard Meyer
Ein Ordinariat am Bosporus

Der Chirurg Rudolf Nissen (1896-1981)

Rudolf Nissen, jüdischer Herkunft ohne religiöse Gebundenheit, sah sich 1933 als außerordentlicher Professor und 1. Stellvertreter des berühmtesten deutschen Chirurgen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Ferdinand Sauerbruch (1875-1951), abrupt am Ende seiner glücklichsten beruflichen Jahre.
     Ende März 1933 erhielt er in Abwesenheit von Sauerbruch einen Anruf des Verwaltungsdirektors der Charité Kuhnert mit der Aufforderung, den nichtarischen Assistenten an der Chirurgischen Klinik den Rücktritt von ihrer Stelle nahezulegen. Nissen entgegnete, dass er der erste sei, »der für diesen Akt der freiwilligen Eliminierung in Betracht käme«.1) Kuhnert bedeutete ihm, dass seine Stellung außerhalb der Diskussion stünde. Nissen beendete das Telefonat mit dem Hinweis, keinerlei Gespräche mit den betroffenen Assistenten führen zu wollen. Der zu Operationen in der Schweiz weilende Sauerbruch wurde unterrichtet und war binnen 24 Stunden in Berlin, um sich des Problems anzunehmen. Immerhin sah er in Nissen seit den Münchner Tagen seinen Lieblingsschüler, der fachlich seinen Intentionen folgte und in seiner Abwesenheit die Klinik exzellent führte.

Sauerbruch war berühmt, ihn, so glaubte er, könne man nicht verprellen, auch die neuen Herren nicht. Er führte eine Unterredung mit dem Reichsärzteführer Leonardo Conti (1900-1945, Suizid). Als Ergebnis teilte er Nissen mit, »nach zwei Wochen werde alles wieder normalisiert sein«.2)
     Nissen teilte den Optimismus seines Chefs in keiner Weise. Wenige Tage später, Nissen befand sich inzwischen mit seiner zukünftigen Frau zu einem Urlaubsaufenthalt in Bozen, ordneten die Nationalsozialisten zum 1. April den »Tag des Judenboykotts« an. Am Tag darauf schrieb er einen Brief an seinen väterlichen Freund Sauerbruch: »Seit dem Boykott- Manifest, einem der schändlichsten Machwerke, die dieses Jahrhundert beflecken, hat sich die Auffassung wandeln müssen. Alles tritt in den Hintergrund gegenüber der schmutzigen Beleidigung des persönlichen Ehrgefühls ... Es ist selbstverständlich, daß ich nicht in Deutschland bleiben kann.«3) Am 7. April wurde das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« veröffentlicht, dessen Auswirkungen Nissen durch eigene Entscheidung zuvorgekommen war.
     Zwischen Sauerbruch und Nissen gab es ein unerschütterliches Vertrauensverhältnis. Und so antwortete er seinem Stellvertreter umgehend: »Was nicht geschehen darf, ist ein Verzicht auf Ihre Universitätslaufbahn ... Diese Lösung heißt Geduld und Abwarten. Jedenfalls zunächst einmal ein halbes Jahr. Denn ich bin überzeugt und habe das gefühlsmäßige Vertrauen, daß sich bis dahin manches klären wird, und damit wäre viel gewonnen.«
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Der Pferdefuß des Briefes kam am Schluss. Obwohl Sauerbruch mehrfach zum Warten riet, forderte er Nissen auf, »mir Ihren Entschluß, den Sie mir in Ihrem Briefe mitgeteilt haben, noch einmal in der Form zur Kenntnis zu bringen, die ich auch der Behörde vorlegen kann«.4) Offensichtlich hatte Sauerbruch innerlich bereits den dienstlichen Bruch mit Nissen vollzogen. Zwar missfielen ihm die Hemdsärmligkeiten der Nazis, während deren politische Richtung zur Korrektur von Versailles und damit zur Wiederherstellung der Ehre Deutschlands ihm außerordentlich behagten. Den Antisemitismus der Faschisten lehnte er allerdings kategorisch ab, wie auch Nissen wiederholt bestätigte, der von ihm nie derartige Äußerungen vernommen hat.
     Ende April kehrte Nissen nach Deutschland zurück, ohne sein Abschiedsgesuch in die von Sauerbruch gewünschte Form gebracht zu haben. Dieser eilte mit dem ursprünglichen Brief zum bereits am 4. Februar 1933 eingesetzten, seit 1922 der NSDAP angehörenden preußischen Minister für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung, Bernhard Rust (1883-1945), der, so Nissen, daraufhin die Absicht verfolgte, Sauerbruch und Nissen gleichzeitig zu suspendieren. Erst das Eingreifen Görings hätte zum offiziell mitgeteilten Ergebnis geführt, dass Nissen seine Amtsgeschäfte unverzüglich wieder aufnehmen solle.
Er lehnte ab, teilte der Charitéverwaltung mit, dass er das Dienstverhältnis als gelöst betrachte und kehrte nicht mehr in die Klinik zurück: Nissen hatte die Konsequenzen aus der antisemitischen Personalpolitik der Nazis gezogen. Seitens des Dekans, des Fakultätsrates oder der anderen Ordinarien erhielten Nissen wie auch die insgesamt 138 von der Charité vertriebenen oder beurlaubten Wissenschaftler keinerlei Unterstützung oder moralischen Zuspruch. Der kam lediglich von der Versammlung aller Oberärzte der Charité, die eine Stellungnahme für ihn verfassten und ihn demonstrativ zum präsidierenden Oberarzt bestimmten.
     Nissen hielt sich im Mai 1933 auf dem Gut seines künftigen Schwiegervaters auf, wo er am 29. Mai die Medizinstudentin Ruth Lieselott Clara Becherer (1908-1986) heiratete und am 31. Mai gemeinsam mit ihr Deutschland mit der Absicht zur Übersiedlung in die USA verließ.
     Der Chirurg an der Seite Sauerbruchs hatte seine Heimat verlassen. Am 5. September 1896 in Neisse (Oberschlesien) als Sohn eines Chirurgen geboren, war sein beruflicher Werdegang vorgezeichnet: 1914 Beginn des Medizinstudiums und sofort Freiwilliger im Sanitätsdienst des deutschen Heeres und dadurch verzögertes Examen 1920 in Breslau.
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Danach erfolgte bis 1922 die übliche ärztliche Vervollkommnung als Volontärarzt und Assistent der Pathologie an den Universitäten Breslau und Freiburg. Geplant war die Übernahme der väterlichen Klinik in Neisse. Im September 1922 erhielt er überraschend ein Angebot von Sauerbruch aus München, der einen pathologisch ambitionierten Chirurgen suchte. In Absprache mit seinem Vater sagte er zu und so begann die »wichtigste Zeit meines Lebens.« 5)
     Elf bedeutungsvolle Jahre des Lernens, Forschens und Lehrens an der Seite von Sauerbruch folgten. Nissen operierte im November 1923 pflichtgemäß die in die Universitäts- Chirurgie eingelieferten Verletzten des Hitler- Marsches auf die Feldherrenhalle, wobei er erstmalig ein politisches Gespräch mit Sauerbruch führte. Thema war die Haltung zum Buch »Der Untergang des Abendlandes« (2 Bände, 1918 und 1922), dessen Autor Oswald Spengler (1880-1936) gelegentlicher abendlicher Gast bei Sauerbruch war. Während der Gastgeber Sympathien für Spenglers seinerzeit im Bildungsbürgertum befürwortete und gleichzeitig von Philosophen und Soziologen heftig kritisierte Ansichten empfand, war Nissen »aufgebracht« über die den Nazis in dem Buch präsentierte Konzeption. Ihn dürften besonders Auslassungen über ewig existierende Rassendifferenzen und die militärische Durchsetzung von Weltherrschaftsansprüchen empört haben.
Aber Spengler und der Hitler- Putsch blieben eine Episode für Nissen, denn nach Hitlers Haftentlassung aus dem Gefängnis Landsberg sei er ein »vergessener Mann« gewesen. Schwerwiegender waren da eigentlich schon Mitte der 20er Jahre die von Nissen miterlebten antisemitischen Ausfälle an der Maximilians- Universität gegen den Chemie- Nobelpreisträger von 1915 Richard Willstätter (1872-1942), einem Freund von Sauerbruch, der ihn vehement verteidigte. Willstätter verließ die Universität aus Protest , Nissen zog aus diesem Vorgang keine Schlüsse für seine eigene akademische Laufbahn. Die schien auf gutem Wege, denn 1926 verteidigte er mit Glanz die Habilitationsschrift.
     Ein Jahr später wurde er von Sauerbruch auserkoren, ihm nach Berlin an die Charité zu folgen. Nissen schlug Angebote wie den Chefarztposten im Krankenhaus Friedrichshain oder den Ruf auf den Lehrstuhl in Heidelberg zu Gunsten seines Chefs aus. Wie wichtig er für den Klinikbetrieb war, schilderte der Nobelpreisträger von 1956 Werner Forßmann, der im Oktober 1929 an die Sauerbruchsche Klinik kam: »Die von Nissen hervorragend durchgeplanten Operationsprogramme für sechs Operationstische, an denen gleichzeitig gearbeitet wurde, konnten nur dann reibungslos ablaufen, wenn ein Arzt verantwortlich war.
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Die laufenden Eingriffe mußten beobachtet werden, um pünktlich den Startschuß für die Betäubungen der darauffolgenden Operationen geben zu können oder sie notfalls selbst einzuleiten und zu übernehmen, bis der dafür eingeplante Narkotiseur zur Stelle war.«6) Sauerbruch wusste nur zu gut, was er an einem solchen Manne für den Klinikbetrieb hatte und beförderte zum August 1930 die Berufung zum außerordentlichen Professor und zu seinem Stellvertreter. Im darauf folgenden Jahr gelang Nissen als erstem Chirurgen die totale Entfernung eines Lungenflügels (totale Pneumotektomie), wobei der Patient überlebte. Zu seinen namhaftesten Patienten gehörten um 1930 Max Liebermann (1847-1935), Kurt Tucholsky (1890-1935) und das Mitglied des Reichstagspräsidiums und Abgeordnete der Deutschen Volkspartei (DVP) Siegfried von Kardorff (1873-1945).
     Immer deutlicher registrierte Nissen »skrupellosen Nationalismus und Antisemitismus«. Seinem Chef bescheinigte er, keine »innere Hinkehr zum Nazismus« vollzogen zu haben, was allerdings durch dessen späteres Verhalten mehr als kritisch zu hinterfragen wäre. Nissen jedenfalls zog für sich schon im Januar 1933 erste Konsequenzen: »In vielen Stunden des ungestörten Überdenkens der Situation kam ich zu dem Schluß, Deutschland zu verlassen, wenn - was zu erwarten war - die Nazis zur Regierungspartei würden.« 7)
     Im Mai 1933 war die Entscheidung Nissens unwiderruflich getroffen, das Ziel hieß Amerika.
Auf der Zwischenstation in Zürich erreichte ihn ein Telegramm der türkischen Regierung mit dem Angebot, an der Universität Istanbul den chirurgischen Lehrstuhl zu übernehmen. Der Pathologe Philipp Schwartz (1894-1977) aus Frankfurt/Main hatte in Zürich inzwischen eine »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland« ins Leben gerufen, um Emigranten Kontakte zu vermitteln. Die Liste der vertriebenen Hochschullehrer umfasste 1936 immerhin 1 617 Namen. Insgesamt sind etwa 5 500 Wissenschaftler wegen ihrer jüdischen Herkunft oder als politisch Missliebige und Gegner suspendiert worden. Ungefähr 45 % aller Universitätsstellen wurden bis 1939 neu besetzt.8) Schwartz unterhielt Verbindungen mit der Türkei, da dort unter Kemal Atatürk (1881-1938) eine grundlegende Reform des Hochschulwesens angestrebt wurde, wofür man sich jetzt profilierte deutsche Wissenschaftler ins Land holen konnte.
      Nissen änderte kurzfristig seine Pläne und nahm Verbindung zur Türkei auf. Als Sauerbruch davon erfuhr, bot er seine vermittelnden Dienste an, um mit seinem Ruf für seinen Lieblingsschüler einen vorteilhaften Vertrag auszuhandeln. Beide trafen sich im Herbst 1933 in der türkischen Hauptstadt, wobei für Nissen eine günstige Anstellung heraussprang: Festanstellung, Vollzeit und ein Gehalt, mit dem es sich leben ließ, jedoch ohne Erlaubnis für eine Privatpraxis. Nissen trat am 1. Oktober 1933 sein Ordinariat an und blieb die nächsten sechs Jahre am Bosporus.
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Etwa 50 weitere deutsche Hochschullehrer fanden in Istanbul ein lohnendes Betätigungsfeld, so u. a. die Mathematiker Richard von Mises (1883-1953) und seine spätere Frau, die Mathematikerin Hilda Pollaczek-Geiringer (1893-1973, BM 12/98), der Gynäkologe Wilhelm Liepmann (1878-1939) und der Jurist Ernst H. Hirsch (1902-1985), in den 50er Jahren Rektor der Freien Universität Berlin.
     Nissen konnte sich in der Fremde ein erfülltes Wissenschaftlerleben gestalten. So strukturierte er die Klinik nach Sauerbruchschen Modell um, strebte ihren Neubau an, unterwies junge türkische Ärzte in moderner Chirurgie, unternahm Studienreisen u. a. in die Sowjetunion und in die USA und beteiligte sich rege durch Kongressbesuche am wissenschaftlichen Leben Europas. Auf dem Wege nach Amerika machte er 1937 in Deutschland Station und ließ Frau und Tocher Renate (1934-1988) zeitweilig bei deren Eltern. Im nächsten Jahr stellte sich bei ihm eine Kaverne im rechten Lungenobergeschoss heraus, die eine Operation erforderte. Danach weilte er zu eigener medizinischer Konsultation in München und zur Erholung in Oberstdorf sowie in Davos. Inzwischen ergaben sich auch Wandlungen im politischen Gefüge der Türkei, die auf eine Annäherung an Deutschland hinausliefen. Den deutschen Professoren wurde nun eine antinazistische Haltung vorgeworfen, die die türkisch- deutschen Beziehungen belasten würden.
Da Nissens Vertrag auf fünf Jahre bis Ende 1938 befristet war, strebte er unter diesen Umständen keine Verlängerung an. Als die Universität Istanbul ihm jedoch einen Zehnjahresvertrag mit reduzierter Arbeit, die türkische Staatsbürgerschaft, eine private Nebenpraxis und finanzielle Sicherung bei Arbeitsunfähigkeit anbot, sagte er zu, während dann die türkische Regierung den Vertrag ablehnte.
     Nun konzentrierte sich Nissen vollständig auf eine private Niederlassung in New York, da eine Universitätsanstellung wegen seines Emigrantenstatus nicht anzunehmen war. Die persönliche Situation wurde 1939 für ihn durch eine Hepatitis nicht leichter. Dennoch siedelte die nunmehr um den Sohn Timothy Oliver (geb. 1939) vergrößerte Familie noch im gleichen Jahr in die Staaten um. Dem erneuten Staatsexamen 1940 folgte im Januar 1941 die Eröffnung einer privaten ambulanten chirurgischen Praxis in New York. Nebenher bekam er am Brooklyn Jewish Hospital Gelegenheit zu großen Operationen und am Long Island College of Medicine eine Associate Professur. Unkompliziert vollzog sich 1944 die Einbürgerung der Familie in die USA. Auf seinem Gebiet blieb er ein anerkannter Arzt, hielt Vorlesungen und Vorträge und publizierte in der Fachpresse seines neuen Heimatlandes.
     Nach Kriegsende war Nissen an deutschen Universitäten nicht vergessen, denn 1946 erhielt er aus Hamburg ein Lehrstuhlangebot.
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Obwohl er sich als Vertreter der chirurgischen Schule des alten Deutschlands fühlte, erteilte er der norddeutschen Universität eine Absage. Seine Begründung: »Es ist aber auch von meiner Seite aus eine unvoreingenommene und ungehemmte Hingabe notwendig. Wahrscheinlich würde es möglich sein, den Kreis der Mitarbeiter so auszusuchen, daß ein vertrauensvolles und fruchtbares Zusammenspiel zustande kommt. Ich zweifle, ob bei Studenten, die über ein Jahrzehnt in ihrer aufnahmefähigsten Entwicklungszeit dem Gift des Nazismus ausgesetzt waren, das gleiche vorausgesetzt werden darf. Ich bin aber sicher, daß ich selbst den Zustand innerer Ausgeglichenheit noch nicht erreicht habe, der es mir möglich macht, den zahlreichen Personen eines großen Arbeitskreises in Deutschland unbefangen und gerecht gegenüberzutreten. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Ihnen antworte, daß ich mich nicht in der Lage sehe, Ihnen eine Zusage zu geben.«9)
     Auch ein erneutes Angebot der Hamburger schlug er 1948 aus. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, seine alte Heimat im gleichen Jahr zu besuchen, um bei dieser Gelegenheit Ferdinand Sauerbruch, »der mein Leben entscheidend beeinflußt hat und den ich wie meinen Vater geliebt habe«, erstmals nach zehn Jahren und gleichzeitig letztmalig zu begegnen. Nissen äußerte sich nicht zum Verhalten Sauerbruchs während der Nazizeit, nicht zu den ihm von den NS-Spitzen überreichten Auszeichnungen und Ehrungen, nicht zu dessen Schweigen zur Euthanasie.
Er kommentierte später auch nicht die knappe Passage, die Sauerbruch in seinen Memoiren seinem ehemaligen Stellvertreter widmete: »Mein langjähriger Mitarbeiter Oberarzt Professor Nissen, den ich von München mit nach Berlin genommen hatte, war Jude. Es war mir gelungen, ihn trotz nicht gerade kleiner Schwierigkeiten bei uns zu behalten; aber diese Stellung war zweifellos sehr unsicher, und er drängte hinaus.«10)
     Sofort wohlwollend stand Nissen dem von der Universität Basel 1951 unterbreiteten Angebot gegenüber, den chirurgischen Lehrstuhl zu übernehmen. Er galt den Eidgenossen als Amerikaner, der sowohl die moderne Chirurgie der Neuen Welt wie die alte deutsche Tradition verkörperte. Im April 1952 trat er sein neues Amt an. In seiner Antrittsrede sparte er die Verurteilung des Nazismus nicht aus, wenn er vom »Haßfeldzug gegen geistige Werte«, einer »Periode geistiger Finsternis und moralischer Gefühllosigkeit« sprach.11) Mit fast 70 Lebensjahren schied er 1967 vom Baseler Lehrstuhl.
     Unter seinen vielen Reisen nahm 1963 die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 75- jährigen Bestehen der Berliner Chirurgischen Gesellschaft eine besondere Stellung ein. Er besuchte beide offizielle Festsitzungen, in Ost- und West-Berlin, und hielt hier wie dort den gleichen Vortrag. 1964 sprach er zum Thema »Chirurgisches Dilemma« vor den Teilnehmern der Chirurgischen Gesellschaft der DDR in dem Hörsaal der Chirurgischen Klinik, in dem er vor über 30 Jahren seine letzte Vorlesung in Deutschland gehalten hatte.
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1966 ehrte ihn die Humboldt- Universität mit der Ehrendoktorwürde.
     Als sich die Hamburger Universität zum dritten Mal um ihn bemühte, schrieb er in einem Brief: »Wenn noch bei meinem ersten Aufenthalt (in Deutschland 1948) der Wunsch unverkennbar war, das nazistische Denken auszumerzen und zu unterdrücken, so hat sich das seit 1952 aus anderen Gründen etwas verändert. Die meisten derer, die suspendiert waren, wurden nach vollzogener Denazifizierung wieder eingesetzt, andere nach der Denazifizierung hinzu gewählt. In einer Streitschrift, die in Göttingen erschien, findest Du eine Apotheose des Mitleids mit den nach 1945 verfolgten Akademikern - verfolgt, weil sie aktive Nazis waren, aber kein Wort über die, die von 1933-1945 davongejagt wurden. Sicher wird in den Fakultäten die Vergangenheit mit Bedauern, vielleicht mit Mahnungen des Gewissens gesehen und empfunden. Das Bedauern betrifft den verlorenen Krieg, die Unfähigkeit der obersten Führung und die Hartnäckigkeit des >Durchhaltens<, als keine Siegesaussichten mehr bestanden.«12) Jenen Chirurgen wollte er höchstens auf Kongressen als wissenschaftlichen Kontrahenten, nicht aber in der Fakultät als Kollegen, als Mitstreiter bei der Heranbildung junger Ärzte begegnen.
     Rudolf Nissen starb anerkannt und hochgeehrt am 22. Januar 1981 in Riehen bei Basel.

Quellen:
1 Rudolf Nissen, Helle Blätter - dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen, Stuttgart 1969, S.
2 Ebenda, S. 183
3 Ebenda, S. 184 f.
4 Ebenda, S. 186f.
5 Ebenda, S. 59
6 Werner Forßmann, Selbstversuch. Erinnerung eines Chirurgen, Düsseldorf 1972, S. 126
7 Rudolf Nissen, a. a. O., S. 181
8 Horst Möller, »Wissensdienst für die Volksgemeinschaft«. Bemerkungen zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik,. in: Berliner Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister. Beamte. Ratgeber, Hrg. W. Treue/L. Gründer, Berlin 1987, S. 308
9 Rudolf Nissen, a. a. O., S. 295 f.
10 Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, München 1956, S. 350
11 Rudolf Nissen, Antrittsvorlesung 1952 (Basel), in: R. Nissen, Fünfzig Jahre erlebter Chirurgie, Stuttgart/New York 1978. S. 10
12 Rudolf Nissen, Helle Blätter, a. a. O.,S. 356 f.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000
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