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Schönhausen oder 12. Bezirk?

Ines Rautenberg, Rainer Kolitsch und Bernt Roder zum neuen Nordostbezirk

Berlin verändert sein Gesicht und auch seine Verwaltungsstruktur. Aus dreiundzwanzig Stadtbezirken werden zwölf. Nur Spandau, Neukölln und Reinickendorf bleiben unverändert erhalten. So sieht es das Gebietsreformgesetz vom 10. Juni 1998 vor. Was seit dem 27. April 1920 der Stadt eine »innere Ordnung« gab, verändert in den siebziger und den achtziger Jahren nur durch die drei neuen Großsiedlungsbezirke Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf, ist nun bald perdu. Langjährige Leiter von Heimatmuseen der Stadtbezirke wissen aus bester Quellenkenntnis, was diese Schnitte in die Berliner Seele bedeuten. Die Gesprächspartner diesmal: Ines Rautenberg (Pankow), Rainer Kolitsch (Weißensee) und Bernt Roder (Prenzlauer Berg)

Bekanntlich identifizieren sich die Berliner vor allem mit ihrem Kiez, erst in zweiter Linie mit dem Bezirk und der Gesamtstadt. Trotzdem gab es überall heftige Diskussionen um die Zusammenlegung der Stadtbezirke. Wie war das in Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg?

     Rainer Kolitsch: Hier wurde davon ausgegangen, dass Weißensee wieder mit Hohenschönhausen zusammenkommt. Diese beiden Niederbarnimer Gemeinden bildeten 1920 mit den drei selbständigen Gutsbezirken Falkenberg, Wartenberg und Malchow den 18. Stadtbezirk. Als 1986 Hohenschönhausen ein eigener Bezirk wurde, kamen dafür Karow mit Stadtrandsiedlung Buch, Heinersdorf und Blankenburg zu uns. Die Zusammenlegung mit dem ebenfalls eher kleinbürgerlich geprägten Pankow wird allgemein akzeptiert, mit Prenzlauer Berg wegen der sehr anderen Sozialstruktur deutlich negativer gesehen.
     Ines Rautenberg: Es gibt eigentlich nur die Sorge, dass die Nähe zu den Ämtern nicht mehr gewährleistet ist. Natürlich gibt es besonders in den Vereinen, die Sozial-, Kultur- und Jugendarbeit tragen, auch starke Zweifel, ob die Einsparungen allein der Verwaltung gelten sollen. Wenigstens wird die Panke im Großbezirk wieder ganz Pankows Fluss sein, die Verbindung mit Weißensee kann auf 700 Jahre vergleichbare Entwicklung bauen. Allerdings ärgern sich manche stolzen Pankower, dass die Bezirksverordneten statt in unserem schönen Rathaus nun in einem ehemaligen Siechenhaus beziehungsweise Obdachlosenasyl, nämlich dem Bezirksamt von Prenzlauer Berg, Quartier nehmen sollen.
     Bernt Roder: Ich habe die Beobachtung gemacht, dass die bevorstehende Bezirksfusion im Bezirk Prenzlauer Berg gar nicht so kontrovers geführt wurde.
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Die Menschen identifizieren sich hier mit ihrer Straße, dem Platz oder Wohngebiet, in dem sie leben und weniger mit den Grenzen des Verwaltungsbezirkes. Eine andere Frage ist es, inwieweit die Fusion zwischen den drei Bezirken Verbesserungen oder Belastungen für den Kontakt zwischen Bewohnern und Behörden bringt. Dies wird wesentlich kritischer beobachtet.

Was hat Ihr Bezirk im 20. Jahrhundert für die Entwicklung der Stadt bedeutet, welche Traditionen sind mit ihm verbunden?
     Bernt Roder: Betrachten wir einmal die Geschichte der Hauptmagistrale, der Schönhauser Allee. Um die Jahrhundertwende war es noch gar nicht ausgemacht, ob der Kudamm im aufstrebenden Westen Berlins oder die beliebte Geschäftsstraße zwischen Schönhauser Tor und Pankow das Rennen um die Gunst der Kunden machen würde. Ich will damit sagen, dass Teile des heutigen Bezirkes Prenzlauer Berg durchaus eine wichtige Bedeutung für Handel und Gewerbe sowie den Lebensstil aufstrebender bürgerlicher Schichten in Berlin hatte. Das wird heutzutage kaum im Zusammenhang mit der Geschichte dieses Bezirkes gesehen. Vielmehr, und dies prägte zweifelsohne diese Gegend im Nordosten Berlins auch viel entscheidender, steht dieser Bezirk für die sozialpolitischen Konsequenzen einer in wenigen Jahrzehnten

aus allen Nähten platzenden, aufstrebenden Metropole, wie es Berlin um die Jahrhundertwende wurde. Die Wohnbebauung im Zuge der Stadtrandwanderung war bis zum Ersten Weltkrieg bis an die Ringbahn gelangt. Das Stadtgebiet des heutigen Prenzlauer Bergs wurde zum Schlafort für die Arbeiterschaft in der Berliner Großindustrie. Viele Neuberliner gründeten hier in den Hinterhöfen kleinere Gewerbebetriebe, typisch für diese Zeit war auch die Heimarbeit, zumeist Zuarbeit für die Konfektionshäuser in der Innenstadt. Im Gefolge der Zuwanderung wurde der Prenzlauer Berg zu einem Ort des sozialen Auf- und Abstiegs. In dieser Gegend wurde in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts das erste städtische Obdachlosenasyl errichtet.
     Zumeist auf der Anhöhe der Barnimkante gelegen, entwickelte sich der Prenzlauer Berg zu dem bedeutendsten Brauereistandort Berlins. Vor Einsetzen einer beispiellosen Fusionswelle produzierten hier zwölf Betriebe den Stoff, der anschließend in den vielen Biergärten und Kneipen in Prenzlauer Berg und ganz Berlin konsumiert wurde. An der Grenze zu den Bezirken Friedrichshain und Lichtenberg entstand der zentrale Vieh- und Schlachthof für Berlin. Nach seiner Eröffnung wurden zeitweilig Rundgänge über das Gelände organisiert, um zu unterstreichen, wie mit technischer Perfektion und hygienischem Standard fortan die Metropole Berlin mit Fleisch versorgt werden konnte.
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Schloss Niederschönhausen um 1900
In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts lebten in diesem Bezirk annähernd 350 000 Menschen auf engstem Raum, heute sind es ungefähr 140 000. Was damals als Stube- Küche mit Klo auf halber Treppe Platz für ganze Familien reichen musste, wird heute nach aufwendiger Rekonstruktion für teures Geld an finanzstarke Singles vermietet.
     Angesichts der vorherrschenden Dominanz typischer Mietshausbebauung im Bezirk Prenzlauer Berg ist kaum noch im Bewusstsein,
dass hier bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und dann verstärkt nach dem ersten Weltkrieg genossenschaftlich organisierte Siedlungsbauten errichtet wurden, darunter, nach den Plänen des Architekten Bruno Taut, die »Wohnstadt Carl Legien«.
     Kurze Zeit später begannen zum Teil blutige Auseinandersetzungen der traditionell in Prenzlauer Berg stark vertretenen Arbeiterparteien und der »Nationalsozialistischen Bewegung«.
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Fast sechs Prozent der Berliner Juden lebten vor 1933 in diesem Bezirk. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung dieses Bevölkerungsteiles sowie deren so genannte »Arisierung« ihres persönlichen Hab und Guts geschah hier wie überall. Wie durch ein Wunder, umgeben von Wohnhäusern, überstand die Synagoge in der Rykestraße, wenn auch im Innern geschändet, den Nationalsozialismus fast unbeschadet. Im Kriege wurde der Bezirk Prenzlauer Berg äußerlich nur verhältnismäßig wenig zerstört. Handel und Gewerbe begannen bald wieder in den unzähligen Hinterhöfen zu produzieren, darunter befanden sich eine Vielzahl von Milchkühen, um die Milchversorgung in dieser Zeit gewährleisten zu können.
     Nach der Währungsreform und Jahre später mit Errichtung der Mauer wurde der Prenzlauer Berg zum Grenzbezirk, natürliche Kontakte der Menschen und Handelsströme waren jäh unterbrochen. Die sozialistische Wirtschaftspolitik führte in den folgenden Jahrzehnten dazu, dass viele Handwerker und Händler ihre Geschäfte aufgeben mussten oder in den Westen abwanderten. Viele Bewohner des Bezirks Prenzlauer Berg zogen es vor, aus den sanierungsbedürftigen Wohnungen in neu errichtete Plattenbauten am Stadtrand zu ziehen. Das Problem der maroden Bausubstanz war allgegenwärtig.
Punktuelle Versuche, dem Verfall Einheit zu gebieten, wie etwa in den siebziger Jahren um den Arnimplatz, waren Tropfen auf den heißen Stein. Die Möglichkeiten kommunalpolitischen Handelns des Rates des Stadtbezirkes waren so begrenzt, dass ganze Straßenzüge faktisch aufgegeben und dem Verfall preisgegeben waren.
     Die spezifische Atmosphäre und Unübersichtlichkeit in Teilen des Stadtbezirks zog Menschen, darunter viele Künstler aus der gesamten DDR, an.
     Ines Rautenberg: Berlin ist doch 'n Dorf! Für Pankow stimmt das neunmal. Weil nämlich der 19. Verwaltungsbezirk Berlins 1920 aus neun Niederbarnimer Dörfern entstand. Das waren Blankenburg, Karow, Heinersdorf, Buch, Blankenfelde, Niederschönhausen, Pankow selbst, Buchholz und Rosenthal. Dazu kam in den Dreißigern Wilhelmsruh, eine 1893 gegründete Kolonie Rosenthals. Nur Wilhelmsruh, Pankow und die Gartenstadt Niederschönhausen bekamen vorstädtischen Charakter, die übrigen Dörfer im Norden erhielten weitgehend ihre agrarische Struktur und produzierten bis in die neunziger Jahre auf Acker- und Gärtnereiflächen und ehemaligen Rieselfeldern.
     Unser Kleinod Schloss Schönhausen spiegelt in seiner Nutzung das letzte Jahrhundert wie kaum sonst ein Gebäude Berlins.
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Erst nur hohenzollernscher Bilderspeicher und dann umstritten, sah man hier ab 1931 lokale Kunst. Nach 1935/36 wurden offizielle Ausstellungen des 3. Reiches gezeigt, schließlich Werke der Diffamierungsschau »Entartete Kunst« im »Kunstdepot EK Schloß Niederschönhausen« gelagert, darunter Arbeiten von Picasso, Dix, Lehmbruck, Corinth, Moderson-Becker und Barlach. 1939 kauften hier Schweizer Kunsthändler und Museumsleiter Spitzenwerke der europäischen Moderne. Am 7. Mai 1940 belief sich nach einer »Verwertungskommission« der Rest auf 156 Gemälde, 6 Skulpturen, 1232 Graphiken und 137 Mappenwerke. 1945 kam bald die wilde Zeit als Kasino mit alliierten Militärtanzkapellen und Schwarzhandel. Eine sowjetischen Schule folgte schon 1946. Ab 1949 wird Niederschönhausen Amtssitz von Staatspräsident Wilhelm Pieck (1876-1960). Nebenan, am Majakowskiring, befand sich das »Städtchen« (von russisch: »gorodka«), die geschlossene Wohnsiedlung der DDR- Führung. Adenauers »Pankoff« als Synonym für den gehassten kleineren deutschen Teilstaat, rührt aus dieser Zeit. Walter Ulbricht (1890-1973) benutzte das Schloß noch bis 1964 als Sitz des Staatsrates. Später nächtigten hier Staatsgäste wie Tito (1892-1980), Indira Gandhi (1917-1984) und als letzter vom 6. bis 7. Oktober 1989 Gorbatschow. Vier Monate früher hatte Erich Honecker (1912-1994) hier den Regierenden Bürgermeister Walter Momper offiziell begrüßt, nachdem bereits Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker 1983 und Eberhard Diepgen 1988 am Niederschönhausener Tisch gesessen hatten.

Der Weiße See mit dem Vergnügungsetablissement »Sternecker« um 1900 nach einer Originalzeichnung
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Schönhauser Tor um 1910
 
Die Bergmann- Werke in Wilhelmsruh entstanden als große Maschinenbaufirma. Berühmt wurde Josef Garbátys (1851_1938) Zigarettenfabrik mit der Marke »Königin von Saba». Er spendete für das jüdische Waisenhaus und die Gemeinde und leistet mit seinen Söhnen aktive Sozialarbeit für die Zigarettenarbeiter, gründet eine Arbeitslosenfürsorge. 1938 müssen die Söhne an einen »arischen« Gesellschafter verkaufen, wandern aus. Der Vater stirbt einsam.
     Bis 1990 versorgte noch die aus VEB Garbáty und VEB Josetti zusammengeschlossene Berliner Zigarettenfabrik von ihrer modernen
Der Zentrale Runde Tisch der DDR tagte vom 27. Dezember 1989 ab vierter Sitzung bis 12. März 1990 im Konferenzgebäude und auch die bald folgenden Zwei plus Vier- Verhandlungen der Außenminister gehören zur Schlossgeschichte.
     Die Dörfer waren um 1900 Ausflugsgegend und Sommersitze betuchter Berliner. Natürlich gabs auch den reich gewordenen »Millionenschulze«. Böhmische Kolonisten in Schönholz und französische in Buchholz, berühmt für ihre fortschrittlichen Gewerbe, waren längst assimiliert.
Produktionsstätte an der Berliner Straße die Ost-Lungen mit »Club«, »Cabinet« und »Karo«. Hundert Jahre Wirtschaftsfaktor Zigarette! Ein Ort der Gesundheitsfürsorge wurde dagegen das Dorf Buch. Ab 1899 baute dort Berlin auf ehemaligem Gutsgelände die »Krankenstadt Europas«, das heutige Klinikum mit seinen Kranken- und medizinischen Forschungseinrichtungen. In Pankow wohnten über sechzig Prozent der Ostberliner Künstler, darunter Schriftsteller wie Johannes R. Becher (1891-1958), Hans Fallada (1893-1947) und Arnold Zweig (1887-1968),
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bildende Künstler wie Theo Balden (1900-1996), Herbert Tucholski (1896-1984), Fritz Cremer (1906-1993), Schauspieler wie Ernst Busch (1900-1980), und nennen wir mal den Manfred Krug.
     Rainer Kolitsch: Weißensee hat den Weißen See. Zu Jahrhundertbeginn herrschte Badeverbot, da ab 1898 die private Seebadeanstalt wegen Baufälligkeit geschlossen war. 1912 wurde endlich die Gemeindebadeanstalt eröffnet, sie existiert bis heute. Die Kommune hatte vorausschauend bereits 1905 den Schlosspark nebst weiterer See- Anrainergrundstücke gekauft. Leider war im Februar 1919 beim Abzug der Soldaten das Schloss, das vordem als Teil von Sterneckers Welt- Etablissement, als Kriegsgarnison und Versammlungsort gedient hatte, samt Munitionsvorräten völlig abgebrannt. Der steten Beliebtheit des 21-Hektar- Parks mit See, Schwimmfontäne von 1969, Pavillons und Freilichtbühne tat das allerdings keinen Abbruch. Weißensee war die »Lindenstadt«, eine der grünsten vorstädtischen Siedlungen. Ab 1880 entstanden hier Berliner Friedhöfe verschiedener Konfessionen. Der an der Herbert-Baum- Straße ist der größte jüdische Begräbnisplatz Europas und wichtiger Ort von Kulturgeschichte. Auf andere Art prägend sind bis heute die Kleingärten und durchgrünte Siedlungen. Mitten in der Stadt ist die Verlandungszone des Faulen Sees ein sehr ungewöhnliches Naturschutzgebiet.
Begonnen hatte die Urbanisierung des 500-Seelen- Dorfes schon 1872 mit dem Hamburger Großkaufmann und Reeder Gustav Adolf Schön (1834-1898), der das Rittergut kaufte und parzellierte. Die Namen der Immobilienspekulanten, ihrer Geschäftsfreunde und sogar geldgebender Verwandter sind seitdem unverändert auf Straßenschildern präsent. Admiralitätsrat Dr. Ernst Gäbler ließ an der Sedan-, heute Bizetstraße, das Mietshausviertel in Berliner Traufhöhe bauen, in das schlesische Zuwanderer einzogen. Seine Pferdebahnkonzession bis zum Alex hat jahrhundertlange Wirkung: Da nur der U-Bahn- Stichtunnel von Alex bis Königstor fertig wurde, ist Weißensee bis heute reiner Straßenbahn- und Busbezirk, tangiert allein von der S-Bahn nach Bernau.
     1905 hatte sich dann die Gemeinde mit Neu- Weißensee (ehemaliger Gutsbezirk) zusammengeschlossen. Das Stadtrechts- Gesuch der nunmehrigen 35 000- Einwohner- Gemeinde wurde 1910 abgelehnt, aber unter dem offiziellen Namen Berlin- Weißensee (1912) kam sie zum Zweckverband. In der Schönstraße war noch bis in die zwanziger Jahre zweimal die Woche großer Pferdemarkt für Berlin. Moderne Einrichtungen prägten das Sozialwesen, so die katholische St.-Josephs- Heilanstalt für geistig Behinderte, die jüdische Taubstummenanstalt und die einstige evangelische Bethabara- Beth- Elim- Stiftung - heute Stephanus- Stiftung (siehe BM 10/99),
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gegründet vom Pfarrer des Frauen- Gefängnisses - Ernst Behrendt sen. (1842-1919).
     An der 1908 eröffneten, stillgelegten Industriebahn Friedrichsfelde- Tegel entstand Industrie. NILES war bis 1990 Großbetrieb des Werkzeugmaschinenbaus, das Kugellagerwerk Riebe hatte im Ersten Weltkrieg bis zu 4 000 Beschäftigte, erlebte 1919 die Streiks und 1920 die Nachkriegs- Pleite. Stern- Radio, seinerzeit mit der Kofferradioproduktion populär, hatte schon Ende der 50er Jahre TV- Geräte als futuristische Designermodelle produziert.
     Weißensee ist bekannt als Kunststandort. Von der Kunsthochschule Weißensee, Anfang 1946 als »Kunstschule des Nordens« in einer ehemaligen Schokoladenfabrik gegründet, gehen auch gegenwärtig starke Impulse für Kunst und Design aus. Einst gab es die Stummfilmproduktion an der Berliner Allee/Ecke Liebermannstraße, hier wurde 1920 »Das Kabinett des Dr. Caligari« gedreht, und die Schönebergerin Marlene Dietrich (1901-1992) begann 1923 ihre Filmkarriere mit »Tragödie der Liebe« in Weißensee. Berühmte Weißensee- Bewohner nach 1945 waren der Dramatiker Bertolt Brecht (1898-1956), die Schauspielerin Helene Weigel (1900-1971), DADA- Gründer und Verleger Wieland Herzfelde (1896-1988), Grafiker Werner Klemke (1917-1994) und Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski (1904-1997).
Was hat sich im Bezirk seit der Wiedervereinigung der Stadt verändert?
     Rainer Kolitsch: Wir blieben trotz aller Bewegung Berlins Bezirk mit der kleinsten Bewohnerzahl (1998: 70 467 Einwohner). Aus dem Industriestandort entwickelte sich schnell ein Wirtschaftsplatz für Handel und Dienstleistungen. Alte Arbeitsplätze gingen verloren, neue wurden geschaffen. So verwandelte sich die Elfe- Schokoladenfabrik in ein Dienstleistungzentrum, am Darßer Bogen entstanden Gewerbegebiete von sechs Hektar Umfang. Weißensee hat, statistisch gesehen, den höchsten Handwerkeranteil im Berliner Vergleich. Es wurde und wird viel gebaut und erneuert, in den drei Sanierungsgebieten Komponistenviertel, Spitze und Weißensee- Süd und auf vielen anderen Standorten bis Neu- Karow. Die Park- Klinik wurde eines der modernsten Krankenhäuser der Stadt, Schulen konnten modernisiert oder neugebaut werden. Weißensee rief 1993 das erste Bürgerbüro Berlins ins Leben. Mit dem Konzept Parklandschaft Barnim auf ehemaligen Rieselfeldern entstand auch der ausgebaute Fahrradweg von Weißensee nach Blankenburg. Die Brotfabrik (an der Spitze) hat sich berlinweit zu einer beliebten Kulturadresse entwickelt. Das private Hundemuseum in Blankenburg steht sogar im Guiness- Buch der Rekorde.
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     Ines Rautenberg: In Pankow wurde eine Reihe Betriebe privatisiert, darunter Bergmann Borsig mit einstmals 4 000 Beschäftigten. Die Maschinen der Zigarettenfabrik sind nach Lübeck verkauft, der Markenname »Club« ging für 13 Millionen an Reynolds. Die Breite Straße hat ihre Bedeutung als lebendiges Stadtbezirkszentrum mit Rathaus, Kirche, vielen Geschäften, dem neuen Kaufhaus, den Märkten und Kultureinrichtungen immer deutlicher ausgeprägt. Ab September wird endlich die U 2 von Vinetastraße bis Pankow Josef-Garbáty- Platz fahren. Wir haben bei unseren rund 120 000 Einwohnern und der nach Norden offeneren Struktur große Baulandreserven. Nach der Landesplanung kann sich die Die Nutzung ist ungeklärt. Aber der neue Eigentümer (seit 1996), das Land Berlin, pflegt es als Denkmal. Vor zehn Jahren ist der innere Schlosspark wieder frei zugänglich geworden.
     Bernt Roder: Für alle sichtbar, wurde der Bezirk mit seiner zusammenhängenden Altbausubstanz nach 1990 zu einem der größten Sanierungsgebiete Europas. Das 19. Jahrhundert endete in dieser Gegend Berlins mit dem Kampf um die Verwertung von Flächen und Immobilien. Hundert Jahre später ist dies nicht anders. Im Gegensatz zu der öffentlich geförderten Altbausanierung seit den siebziger Jahren im ähnlich strukturierten Bezirk Kreuzberg trifft das Stadterneuerungsinstrumentarium heute auf völlig veränderte Bedingungen.
Einwohnerzahl auf unserer Fläche sogar verdoppeln. Es wurde und wird also in den Wohngebieten und in vielen Neuaufschlüssen viel gebaut. Aber sicher bleibt auch künftig ein Drittel Pankows Grünfläche. Von 13 652 Kleingartenparzellen anno 1947 existieren immerhin noch fast neuntausend. Die botanische Anlage in Blankenfelde, einst Weddinger Schulgarten, wurde zum Volkspark. Seitdem 1991 Königin Beatrix der Niederlande und ihr Gemahl als letzte Staatsgäste unter königlichem Baldachin in Schönhausen nächtigten, geht es allerdings mit dem Schloss so wie vor einem Jahrhundert:
Schönhauser Tor im Jahre 2000
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Teile der Bausubstanz im Bezirk stehen unter einem enormen Verwertungsdruck, Familien mit Kindern ziehen auf Grund des vorhandenen Angebotes auf der Suche nach einer besseren Lebensqualität aus dem Bezirk, zahlungskräftige Neuberliner, zumeist Einzelhaushalte, bevorzugen diese Gegend Berlins, ganz in der Nähe des Stadtzentrums. Der Ausgang dieser Entwicklung ist noch offen, ein Großteil der angestammten Bewohnerschaft begegnet diesem Prozess mit Skepsis und Ohnmacht. Es gibt Gegenden in diesem Bezirk, die liegen nach wie vor im Schatten der Aufwertung des Stadtraumes, andere, wie etwa der Kollwitzplatz, gehören mittlerweile zum Besuchsziel fast jedes Berlintouristen.

Wie geht es mit dem Heimatmuseum im neuen Großbezirk weiter?
     Rainer Kolitsch: Wir haben 1990 in einer Ausstellung die Filmstadt Weißensee vorgestellt und seitdem bis heute in unserem Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee insgesamt 18 Ausstellungen gezeigt, die Lokalgeschichte in größeren Zusammenhängen darstellen. Wir können dabei stets auf unseren reichen gegenständlichen Fundus, das Dokumentenarchiv (11 laufende Regalmeter), unser Fotoarchiv mit 10 000 Bildern und Postkarten, geordnet nach Straßen und Themen authentisch von 1905 an, und auf unsere Landkartensammlung zurückgreifen.

In unserer neuen Ausstellung »Weißensee kreuz und quer« zeigen wir Technik der vorigen Jahrhundertwende. So zum Beispiel ein restauriertes mechanisches Kirchturmuhrwerk, eine Influenzmaschine, einen mechanischen Zahnbohrer mit Fußpedalantrieb. Unser Dorfmodell »Weißensee 1859« zeigt überzeugend, dass Weißensee ein Dorf war.
     Das erste Gemeinschaftsprojekt wird sich auf das Schicksal ausländischer Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg in den drei Stadtbezirken beziehen. Zum Advent wird es wieder eine historische Postkartenausstellung mit Begleitbuch geben.
     Bernt Roder: Die Zusammenlegung der drei Museen ist beschlossene Sache. Wichtig erscheint mir, dass es auch weiterhin Arbeitsräume und Kontakte in viele Ortsteile, Wohnquartiere, darunter Plätze und Straßen gibt. Das persönliche und dezentrale Moment der lokalgeschichtlichen Museumsarbeit muss im künftigen Großbezirk unbedingt erhalten bleiben oder entwickelt werden.
     Darüber hinaus hat das Prenzlauer Berg Museum in den zurückliegenden Jahren gute Erfahrungen damit gemacht, einmal im Jahr eine größere, thematische Sonderausstellung zu einem spezifischen Thema der Bezirksgeschichte der Öffentlichkeit vorzustellen. Durch diese Arbeit konnten immer wieder wichtige Quellen gesichert, unterschiedliche Besuchergruppen angesprochen und interessante museumspädagogische Vermittlungsangebote erarbeitet werden.
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     Ines Rautenberg: Die bekanntesten Erfinder Pankows aus der Zeit um 1900 (vgl. BMS 10/94, S. 106) sind Max Skladanowsky (Film), Reinhold Burger (Thermosflasche) und Paul Nipkow (Fernsehen). Zeugnisse der drei gehören zum eisernen Bestand unseres Hauses. Als langjährige Leiterin des Panke Museums freue ich mich, dass unser Domizil in der Heynstraße 8 für die nächsten Jahre gesichert ist. Rudolf Dörrier (geboren 1899), nach dem Krieg Leiter der Pankower Bibliothek, Gründer der Pankower Chronik und des Heimatmuseums sowie Ehrenmitglied des Freundeskreises, hatte die in der Erstausstattung guterhaltene großzügige Wohnung des Stuhlrohrfabrikanten Fritz Heyn (1849-1928) im Jahre 1972 entdeckt. (Siehe auch BM 7/2000)
     In der Museumslandschaft des künftigen Stadtbezirks hat die Beletage Heynstraße nebst Garten einen ganz besonderen Part. Nach unserer gerade beendeten Ausstellung »Die Pankower Tafelrunde« über das »Städtchen« von 1945-1960 in der Dependance Wilhelm-Pieck- Haus Majakowskiring steht nun die Aufarbeitung der spannenden Geschichte um die Runden Tische 1989/90 bevor.

Heimatmuseen fühlen sich zuständig für den Kiez und seine Tradition, wie kann man den Menschen im neuen Großbezirk dieses Heimatgefühl erhalten?

     Rainer Kolitsch: Natürlich wollen wir die Erwartungen unserer Bewohner erfüllen, sammeln und Geschichte erlebbar machen. Das geht langfristig nur am nahe gelegenen Standort, vor Ort sozusagen. Dazu gehört auch die Oral-history- Geschichtsarbeit. Wichtigster Partner ist unser sehr aktiver Heimatverein, der einst aus der Fachgruppe Heimatfreunde des Kulturbunds kam, darin verwurzelt ist, viele Aktivitäten bündelt und wechselseitig Anregungen gibt, uns mit Ausstellungen, Publikationen und Projektgruppen unterstützt.
     In Weißensee als Ort eigener Identität hat das Museum am Standort vielfältige Beratungsfunktionen. Zu unserem Archivtag Mittwoch kommen Schulen, Journalisten und Buchautoren, Architekten und Geschäftsleute wie Firmenabgesandte - Leute, die Auskünfte brauchen. Und unsere Schulkontakte beziehen sich sowohl auf den Sachkundeunterricht der dritten und vierten Klassen wie auch auf die Gymnasien, schließen Stadtrundgänge durch die Kieze und Vorträge ein.
     Ines Rautenberg: Seit 1974 haben Generationen von Pankower Schülern ihre erste bewusste Erfahrung von Geschichte in Fabrikant Heyns gutbürgerlichem Wohnzimmer, dem historischen Badezimmer mit gefliester Wanne, unserer Ausstellung von Sachzeugnissen und der im Nebentrakt eingerichteten Arbeiterstube, der Museumsküche und -mädchenkammer gemacht.
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Pankower leben überall in Berlin, in Brandenburg, in den anderen Bundesländern, und sie kommen hierher, fast ein Familienbesuch. Museum und Chronik arbeiten eng mit den geschichtlich interessierten Ortsteilvereinen und Bürgern, mit unserer Museums- Kiezgruppe und natürlich mit dem im Niederschönhausener Brosehaus ansässigen Freundeskreis der Chronik Pankow zusammen. Dieses Netzwerk muss lebendig bleiben.
     Bernt Roder: Generell muss es dem Museum gelingen, bedeutsame Objekte und schriftliche Quellen zur Geschichte und Gegenwart des bezirklichen Stadtgebietes zu sammeln und für die Nachwelt aufzubewahren.
     Das Verständnis für die Geschichte des Lebensumfeldes der Bewohner und damit letztendlich für die Gegenwart zu fördern, erscheint mir die wichtigste Aufgabe unseres Hauses. Insbesondere die Erforschung und Vermittlung von Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte kann lokalhistorisch an konkreten Biographien und stadträumlichen Veränderungen beschrieben werden.
     Im Sinne des Anspruches, kulturhistorische Museumsarbeit zu betreiben, sollten wir bemüht sein, in Kontakt mit den Bewohnern bzw. Museumsbesuchern zu treten, sie aktiv in unsere Spurensuche mit einzubeziehen und damit zugleich einen Beitrag zu kommunikativer Geschichtsarbeit zu leisten.
Obwohl die Namen der neuen Bezirke noch nicht feststehen, wurde gerade um sie heftig gestritten. Welcher Name des neuen Bezirks wäre Ihnen am liebsten?
     Ines Rautenberg: In der Mai- Umfrage des Lokalblatts forderten 67 sehr lokalpatriotische Leser »Schönhausen«, siebzehn favorisierten den 12. Bezirk, immerhin drei nannten Nordost. Auch »Spitze«, »Schloss Elisabeth« und eine Reihe solcher Kunstworte wie Panseeberg, Weipanberg oder Prae-N-We tauchten auf. Ich neige zum neutralen Nordost und zur Nummerierung.
     Rainer Kolitsch: Ich bin für die einfache Durchnummerierung wie in Paris, schließlich sind Neuwörter wie Bezirk Nord, Nordsee, Spitze Nordost oder gar Barnimhöhe auch nicht gerade erschöpfend.
     Bernt Roder: Bild oder Zahl? Dann doch lieber Zahl!

Das Gespräch führte Bernd S. Meyer

Bildquellen: Archiv Autor, Fotos
Repros: Stadtbezirksmuseen

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/2000
www.berlinische-monatsschrift.de