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Thomas Naumann

Anmut sparet nicht
Deutsche Hymnen


Es war vor zehn Jahren, am Morgen des Tages, als Deutschland wieder unser einig Vaterland wurde. Rolf Liebermann, bis 1988 Intendant der Hamburger Staatsoper, fragte im Norddeutschen Rundfunk Hörer aus Ost und West, welche Gefühle sie mit ihren Nationalhymnen verbinden.

Die Antworten waren vielfältig. Eine ältere Westdeutsche rief im Studio an und sagte, sie habe eigentlich nichts gegen das Deutschlandlied. Aber wenn sie es höre, klinge ihr auch heute noch das Horst-Wessel-Lied im Ohr, das während des Dritten Reichs obligatorisch folgte.

Ein Mann aus Ostdeutschland bemerkte, das „Deutschland, einig Vaterland“ der DDR-Hymne sei ja am heutigen Tag geschaffen worden. Der Text eigne sich, nüchtern betrachtet, gar nicht so schlecht als Hymne des geeinten Deutschlands. Die Erinnerung an all die Anlässe, auf denen er sie hören und absingen mußte, sei ihm aber auch jetzt noch unangenehm.

Ein anderer Anrufer schließlich beschwerte sich, Herr Liebermann solle sich als Jude und Schweizer Bürger gefälligst nicht in deutsche Angelegenheiten einmischen.

Drei Anrufe - drei Stimmen deutscher Hörer. So schwierig wie unser Verhältnis zur eigenen Geschichte schien also auch die Haltung zu unseren Nationalhymnen zu sein. Die deutsche Vereinigung war ein historischer Moment, der große Chancen in sich barg.

Und so regten sich damals auch Stimmen, die vorschlugen, uns und den mit uns lebenden Völkern endlich nicht mehr das Lied zuzumuten, unter dem Deutschland seine Nachbarn mit einem schrecklichen Krieg überzogen hat. Im Februar dieses Jahres verschonte Bundespräsident Rau bei einem Staatsbesuch nicht einmal seine israelischen Gastgeber mit dem unseligen Produkt. Dies dem israelischen Volk zu ersparen hätte immerhin die Größe von Brandts Warschauer Geste gehabt. Haben deutsche Dichter, haben deutsche Musiker denn wirklich keinen Text und keine Melodie geschaffen, vor denen die Völker nicht erbleichen?

Als ersten Entwurf für eine Nationalhymne der DDR verfaßte Bertolt Brecht 1949 einen Text, den Hanns Eisler vertonte. Doch nicht dieser Text wurde Hymne der soeben gegründeten DDR, sondern der von Johannes R. Becher. Die Musik stammte ebenfalls von Eisler, der dafür 1950 einen der ersten Nationalpreise erhielt. Bechers und Brechts Texte haben das gleiche Versmaß. Damit sind Eislers Vertonungen miteinander vertauschbar - ein reizvolles Spiel.

Die Melodie des Deutschlandlieds stammt von Haydns „Kaiserhymne“, die er auch im Variationensatz seines Streichquartetts op. 76 Nr. 3 wählte. Doch auch diese Melodie paßt auf beide Texte. Und Eislers Melodie der DDR-Hymne harmoniert umgekehrt mit dem Text des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben. Noch ein viertes Paar von Text und Musik fügt sich in dieses heitere Spiel: Schillers „Ode an die Freude“ in Beethovens Vertonung in der 9. Symphonie.

Vier deutsche Texte - vier deutsche Melodien: Das gibt sechzehn Hymnen. Was für ein Reigen! Findet sich da nicht eine Variante, die Deutschlands würdig ist? Welch eine Vorstellung: Es gibt ein Referendum über eine neue deutsche Hymne. Das Volk, der Souverän, singt die Texte und Melodien seiner größten Dichter und Musiker und entscheidet in freier Selbstbestimmung, was es in seinen festlichsten Momenten hören und den anderen Nationen präsentieren möchte!

Versuchen wir es: Bechers Text in Haydns oder Beethovens Vertonung klingt sowohl repräsentativ als auch friedlich und gedenkt deutscher Geschichte. Die Melodie des
Deutschlandlieds muß andererseits nicht vom
Stabsmusikkorps der Bundeswehr zelebriert
werden. Haydns Verarbeitung im Kaiser-Quar-
tett hat ganz feine, kantable Töne und paßt
verblüffend gut zum zarten Text von Brechts
Kinderhymne.

Soll es jedoch lieber hymnisch und repräsen-
tativ sein, dann merken wir, daß Beethoven
und Brecht einander wirklich genial ergänzen.
Gerade Brechts Kinderhymne übt im Spiegel
der verschiedenen Vertonungen einen ganz ei-
genen Reiz aus, den es sich lohnt, etwas genau-
er zu ergründen. Wir zeigen hier Brechts Ty-
poskript mit seinen handschriftlichen
Korrekturen (Bertolt-Brecht-Archiv 74/49; s. a.
Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 1938-1955, Auf-
bau-Verlag, Berlin und Weimar 1978, S. 20).

Brecht, der Dialektiker, liebte es, Gegen-Lieder
zu schreiben. So ergänzte er das Lied „Von der
Freundlichkeit der Welt“ aus seiner Hauspo-
stille des Jahres 1918 kurz vor seinem Tode mit
einem „Gegenlied“.

In diesem Sinne konzipierte er die Kinderhym-
ne 1949 als Gegen-Lied zum Deutschland-
Lied und als unmißverständliche Stellungnah-
me zu dem Text, der noch heute deutsche
Hymne ist.


Der Autograph gestattet uns gleich im ersten Vers einen lehrreichen Einblick in die Werkstatt des Dichters. Wie wir sehen, schreibt Brecht ursprünglich: „Arbeit sparet nicht noch Mühe“. Köstlich - der große Brecht beginnt das Gedicht zuerst mit einer Trivialität und Geschmacklosigkeit. „Arbeit sparet nicht noch Mühe ...“: Seid alle fleißig, dann wird alles wieder gut. Welch eine Banalität!

Doch dann ändert Brecht in: Anmut sparet nicht noch Mühe! Anmutig beginnt nun das Gedicht, und ebenso leicht und zart wird es von Eislers Melodie begleitet. Der Dialektiker Brecht spielt mit dem Reiz der Gegensätze: Arbeit und Mühe müssen keine Last sein. Deutsche, arbeitet nicht nur! Arbeit allein bringt nicht Glück und Frieden. Vergeßt über all der Mühe, bitte, die Anmut nicht! Welch schöne Bitte!

Aber er hat auch ein anderes, ernstes Anliegen. Wie im Deutschlandlied verkündet, hatten deutsche Soldatenstiefel

eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Am Ende der dritten Strophe weist Brecht Großdeutschland charmant, aber bestimmt in seine historischen Schranken:

Und auf das im Deutschlandlied folgende

antwortet er am Ende seiner Hymne mit einer genialen dreifachen Zurücknahme. Er sagt zu Deutschland: „und das liebste mag's uns“ erstens und zweitens auch nur „scheinen“ - und drittens bitte „so wie andern Völkern ihrs“. Hätte nicht dieser Text unseren Nachbarn wie Polen und Frankreich während der deutschen Vereinigung Ängste vor einem zu starken Deutschland nehmen können?

Wäre es nicht an der Zeit, daß sich das moderne Deutschland eine Hymne mit freundlichem Antlitz gibt? Die Auswahl ist groß. Wie sagte Brecht einmal:

Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.

Nachsatz: Die zweite deutsche Hymne

Während der Nazidiktatur war das Horst-Wessel-Lied zweite deutsche Nationalhymne. Diese „Hymne“ wurde 1927 von dem SA-Studenten Horst Wessel verfaßt, der 1930 ermordet und vom Faschismus zum Märtyrer erhoben wurde. In seinem Theaterstück „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ hat Brecht auch zu dieser „Hymne“ ein Gegenlied geschrieben - den „Kälbermarsch“, eine scharfe Satire auf das Original:


Den Glücklichen, die die Vorlage nicht kennen, hier zum Vergleich das Original:

Erst nachdem Brecht diesen Unrat durch seine ätzende Persiflage zersetzt hatte,war die Zeit reif für die Anmut seiner Hymne.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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