Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

... dem man nichts beweisen kann

Laurence Bergreen: Al Capone. Ein amerikanischer Mythos
Ins Deutsche übertragen von Eva Dempewolf und Ursula Walther
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1996, 495 S.

Alphone Capone, Al genannt, geboren am 17. Januar 1899 in Brooklyn, New York, als Kind italienischer Einwanderer, gestorben am 25. Januar 1947 in Miami, Florida. Berüchtigter Gangster, Mörder, Zuhälter, in den „goldenen Zwanzigern“ Staatsfeind Nr. 1 der USA geworden, weltweit bekannte Personifikation des organisierten Verbrechens mit doppelter Genesis: Süditalien und USA. Nun also noch ein Buch über diesen Kriminellen, den letztlich weder Steuerfahnder noch Staatsanwalt noch Richter zur Strecke gebracht haben, sondern die Syphilis. Ist es lesenswert, was Bergreen da umfangreich zu Papier gebracht hat?

Ja, das ist es, und dies in mehrfacher Hinsicht. Man sollte nicht darüber streiten, ob das Urteil nach Erscheinen der Originalausgabe von 1994 (mit dem treffenderen Titel „Capone - The man and the era“) in der New York Times, dies sei „sicherlich die definitive Biographie“, zu vollmundig ausgefallen sei. Hier liegt als Ergebnis mehrjähriger intensiver Arbeit nicht nur eine durch ihre Details beeindruckende gültige Vita vor, sondern auch eine pralle Lebensgeschichte. Sie ist zugleich Sittengeschichte in einem umfassenden Sinn des Wortes: facettenreiches Spiegelbild der Gesellschaft, insbesondere des korrupten Verwaltungs- und Rechtssystems der USA, dieser „dunklen Seite des amerikanischen Traums“, wie der Autor schreibt, ohne übrigens für diesen Zustand eine deutliche zeitliche Zäsur zu setzen.

Das Leben des Al Capone, von einem erfolgreichen Journalisten und Autor aufgezeichnet, ist bemerkenswert aufwendig und umfangreich erkundet worden. So wurden außer der Recherche in Dokumenten mehr als 300 Interviews mit Zeitgenossen geführt, eine besonders beachtliche Leistung, denkt man an das traditionelle Schweigegebot, das in Gangsterkreisen nach wie vor gilt. Das Buch, an belegten Einzelheiten und erkundeten Neuigkeiten kaum zu übertreffen, hat allein darin seinen Wert. In der Hauptsache aber handelt es sich um das Psychogramm eines Verbrechers, verbunden mit der Schilderung gravierender gesellschaftlicher Mißstände, eine ebenso nüchterne wie wirkungsvolle Darstellung. Diese Mißstände erst ließen die kriminelle Energie, das demagogische Talent, die heuchlerische Mildtätigkeit und unverhüllte Brutalität des Capone zur Wirkung kommen. Und das Wirken des Capone wiederum vertiefte, verfestigte diese Mißstände, es hinterließ unverwischbare Spuren in der amerikanischen Gesellschaft.

Bergreen mißt der zerstörerisch fortschreitenden Geschlechtskrankheit, die A. C. sich wahrscheinlich schon in jungen Jahren zugezogen hatte, eine besondere Rolle zu: „Der Capone, der in die Geschichte einging, war das Produkt einer Krankheit, die seine Persönlichkeit veränderte. Die Syphilis erst ließ Al Capone zu einem Mythos werden.“ Solch absolutes Urteil aber ist durch das bekannte, generell zu beobachtende Krankheitsbild nicht gerechtfertigt, zumals es erst im Gefängnis, im fortgeschrittenen Stadium, zu einer ersten Diagnose kam.

Der Autor schildert eingehend Geltungssucht und Imponiergehabe, Beschützergesten und Spendierfreudigkeit, Verletzlichkeit und Temperament des gebürtigen Süditalieners. Er schildert auch seine Vorbilder wie Frankie Yale („Killer und Wohltäter in einer Person“) sowie den prägenden Einfluß des campanilismo, des Zusammenlebens der Einwandererfamilien in einem Stadtviertel der neuen Heimat. Dies alles hat A. C. entscheidend geprägt. Die in späteren Jahren zu beobachtende Sprunghaftigkeit ist sicherlich symptomatisch für seine unentdeckte und daher unbehandelte Krankheit, aber zum Mörder, Zuhälter, Alkoholvertreiber und immer einflußreicheren Gangsterchef wurde er nicht wegen, sondern eher trotz seiner Krankheit, und zu einem Mythos - wenn dieses Wort überhaupt am Platz ist - haben den A. C. seine Verbrechen gemacht und das Geschick, mit dem er sich lange Zeit jeder Bestrafung entziehen konnte.

Bergreen beschreibt mehrfach durchaus schlüssig, unter welchen Umständen es zu Brutalitäten und Bluttaten kam. Das waren keine krankhaften Reaktionen, sondern bedachte und spontane Handlungen, wie sie für ein Dutzend bekannter Anführer des organisierten Verbrechens zum „Handwerk“ gehörten. Die Art und Weise, wie Capone sich des Chicago-Vororts Cicero und dann der ganzen Stadt bemächtigte, zeugt von überlegter Strategie und wohl auch für die stimulierende Wirkung von Kokain, wie Bergreen sicherlich zutreffend vermutet.

Was sich während der zwanziger und dreißiger Jahre als spezifische Kriminalität der USA entwickelt hat, wird vom Autor deutlich als ein die Gesellschaft prägendes Phänomen geschildert. Es ist einmal die Installation krimineller Geschäfte als Teil des Geschäftslebens insgesamt. Bergreen verlegt diesen Prozeß vornehmerweise in die Vergangenheit, schreibt über „das organisierte Verbrechen, das dem legitimen amerikanischen Business so sehr ähnelte“. Capones Lehrmeister Johnny Torrio „führte seine verbrecherischen Unternehmungen mit einer Selbstverständlichkeit durch, als seien es völlig legale Geschäfte“, zitiert Bergreen den Biographen dieses Torrio. Und zum anderen wird - gewollt oder ungewollt - deutlich, daß dieses Gangstertum, mit dem die Städte der USA immer stärker infiziert wurden, aus der Gesellschaft nicht mehr zu entfernen ist.

Im Januar 1947, als der haftunfähig gewordene Capone wohlbehütet und umsorgt in seinem Haus im sonnigen Florida gestorben war, hieß es in einem Nachruf, er sei „das monströse Sinnbild einer Seuche, die sich tief in das Gewissen Amerikas hineingefressen hat“ (New York Times). Einer der Namen dieser Seuche ist Korruption. In Chicago, schreibt Bergreen, wartete die Stadtverwaltung „sozusagen nur darauf, sich dem anzudienen, der die höchsten Bestechungsgelder zahlte“. Die Prohibition bot Capone und anderen Gangstern ein willkommenes zusätzliches Feld, war aber keineswegs der Auslöser oder hauptsächliche Träger jener Seuche, die mit der Ausbreitung des Kapitalismus in den USA einherging.

Bergreen hat es offenbar nicht als seine Aufgabe gesehen, Genesis und begünstigende Umstände des Gangstertums in den USA zu analysieren - dies hätte denn auch ein vielbändiges Werk erfordert. Auch war es nicht seine selbstgestellte Aufgabe, einer aktuellen Weiterentwicklung und vielleicht Mutation dieser Art von Kriminalität nachzugehen. Mit der breit angelegten Geschichte des A. C. liefert er jedoch einen eindrucksvollen Beitrag über die Wurzeln eines fortschreitenden Übels. Daß gegen die Kriminalität dort kein Kraut gewachsen ist, zeigt übrigens diese Tatsache: Die Zahl der in den Gefängnissen der USA einsitzenden Gefangenen lag 1996 bei 1,63 Millionen; sie hat sich binnen eines Jahrzehnts verdoppelt - aber keineswegs wegen einer doppelt erfolgreichen Polizei und Justiz. Auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, erreicht die Quote der USA-Gefängnisinsassen im Vergleich zu Berlin fast den sechsfachen Wert.

Im Bemühen um eine differenzierte Wertung des A. C. entgeht der Autor nicht der Gefahr, ein wenig von jener anhaltenden naiven Bewunderung zu akzeptieren, die solchen Gangstern in den Vereinigten Staaten zuteil geworden ist und zuteil wird. Was er über Capones Vorbild Yales mitteilt, trifft auch auf Capone zu: „Die Geschichten, die über ihn kursierten, erweckten Ehrfurcht.“

Das Leben und Treiben des A. C. ist nicht zuletzt ein klassischer Beweis für die Ohnmacht von Polizei und Justiz gegenüber dem organisierten Verbrechen. Der Ärger des Autors darüber kommt sowohl zwischen den Zeilen als auch expressis verbis zum Ausdruck. Schließlich wird Capone, wie Bergreen fast erbittert feststellt, nur wegen vergleichsweise geringer Steuerhinterziehungen hinter Gitter gebracht, und dies gelingt erst nach jahrelangen hartnäckigen Versuchen, ihn beweiskräftig anzuklagen. Stets - bis dann ein kleines Wunder geschieht - bleibt er ein Mackie Messer, dem man nichts beweisen kann, obwohl alle Spatzen seine Kapitalverbrechen von den Dächern pfeifen. Capone sei sich von Anfang an „bewußt gewesen, daß die größte Gefahr nicht von den Behörden und Strafverfolgern ausging, sondern von anderen Gangstern“.

So erweist sich A. C. in vieler Hinsicht auch als ein ebenso makabrer wie aktueller Lehrmeister für die legal einhergehenden Verbrecher aller Länder, die sich vereinigt haben, um die heutige Profitgesellschaft zu begleiten, und längst international organisiert sind. Gegen sie erscheint A. C. wie ein kleiner Anfänger, jedenfalls was den Umfang der Geschäfte betrifft.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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